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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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einen Sturzflug einlegte. Die ganze Zeit über hielt Marian sich in seinem zottigen Nacken und sah dabei aus wie beim Rodeo.
    »Bist du wahnsinnig geworden?«, schrie ich in den Himmel über mir, als der Bär erneut in die Tiefe stieß und, das erkannte ich viel zu spät, geradewegs auf mich zuhielt.
    »Vielleicht«, hörte ich Marians Stimme im Wind. Einen Atemzug später schlang sich ein Arm um meine Taille und ich wurde in die Höhe gerissen. Mein Magen zuckte zusammen, ich hörte mich selbst kreischen. Dann spürte ich zottiges Fell unter mir und Marian, der direkt hinter mir im Nacken des Bären saß und mich festhielt, während sich das Seelentier mit uns in die Wolken emporschraubte.
    In der Tiefe erkannte ich das Gehege und Marians und meinen Körper, die versonnen davorstanden, als wären sie ganz vertieft in die Betrachtung des dösenden Eisbären. Anscheinend hatte ich, ohne es zu bemerken, meinen Körper verlassen. Der Wind biss mir in die Augen und mir fiel auf, dass ich noch immer aus Leibeskräften schrie, während der Schattenbär versuchte, uns von seinem Rücken zu schütteln.
    »Fantastisch, nicht wahr?«, rief Marian.
    Was? Ich verstummte jäh. Blinzelte. Versteifte mich in seinen Armen. Das hier sollte also ein Spaß sein? Hatte Marian sie nicht mehr alle?
    »Lass mich sofort runter«, sagte ich, jedes Wort einzeln betonend. »SOFORT!«
    Marian seufzte.
    »Ich dachte, es würde dir gefallen«, erklärte er, als wir wieder festen Boden unter den Füßen hatten. Mit einem Sprung hatten wir uns vom Rücken des Ungeheuers gerettet und waren zu unseren Körpern hinübergerannt. Noch immer drehte der aufgescheuchte Schattenbär seine Runden hoch über dem Zoo. Dann und wann hörten wir ihn brüllen.
    »Wir sind echt zu dämlich!«, schnaubte ich und beschleunigte meine Schritte. Ich wollte nur noch nach Hause. »Uns einzubilden, einander zu kennen.«
    Marian eilte hinter mir her. »Flora, warte! Komm schon, Polarschatten sind total cool und deine Seele –«
    Abrupt wirbelte ich herum. »Ich bin nicht wie diese blöde Kuh, mit der du mich andauernd vergleichst, kapiert?« Tränen traten mir in die Augen. Er meinte nicht mich! Seine Küsse hatten es mich einen Herzschlag lang vergessen lassen. Doch nun begriff ich: Er liebte noch immer eine andere. Seine Worte waren nicht das Geringste wert. »Kannst du überhaupt was anderes, als mich anzulügen?« Ich schluchzte auf, wollte mich abwenden, damit er nicht sah, wie ich heulte.
    Aber Marian griff nach meinen Händen und hielt mich fest. Er presste die Kiefer aufeinander. In seinem Blick erkannte ich, dass er wusste, was ich dachte. Behutsam schüttelte er den Kopf.
    »Nein«, flüsterte er. »Du bist jetzt meine Flora. Die vorlaute, gewissenhafte, Ballett tanzende und viel zu vorsichtige Flora. Aber weißt du, so vollkommen anders als die andere Flora bist du gar nicht. Du bist doch auch mit zum Ball gekommen … Und deshalb dachte ich, es würde dir Spaß machen, einen Polarschatten zu bezwingen. Bescheuert, ich weiß.«
    Das Grün seiner Augen umfing mich. Ich biss mir auf die Lippe, betrachtete seine kantigen Züge und die weißblonden Bartstoppeln auf seinen Wangen. Alles an ihm erschien so vertraut. Und doch hatte sich gerade wieder einmal gezeigt, wie erschreckend wenig wir vom anderen wussten. In der Ferne ertönte erneut das Heulen des Schattenbären und ließ den Anflug eines Lächelns über Marians Züge flackern.
    »Na, zweite Runde? Wie wär’s?«
    Ich verdrehte die Augen.
    »Ich verspreche auch, nicht zu lachen, wenn du wieder wie am Spieß kreischst.« Sein Lächeln verwandelte sich in ein Grinsen.
    »Und ich verspreche, dir eine reinzuhauen, wenn du mich je wieder auf so ein Vieh zerrst«, sagte ich und funkelte ihn an.
    Marian zwinkerte mir zu. »Einverstanden. Was dann?«
    Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Mittlerweile stand mir der Sinn nicht mehr nach trauter Zweisamkeit.
    »Lass uns gehen«, sagte ich deshalb schließlich. »Bestimmt vermisst mein Vater uns schon und Christabel steht kurz vor einem Nervenzusammenbruch.«

16
FLUVIUS GRINDEAUT
    So richtig wurde ich aus dem, was mein Vater am Nachmittag mit seinem Regierungsstab besprach, auch nicht schlau. Anscheinend hatte man in den Materienflözen der Zechen bereits mehrfach ein Leuchten beobachtet, dessen Quelle sich nicht ausmachen ließ. Die Erscheinungen, die an unterschiedlichsten Orten und zu unterschiedlichsten Zeiten aufgetaucht waren, beunruhigten die Abgeordneten,

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