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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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das hölzerne Rund. Er hatte gewonnen, doch niemand applaudierte ihm. Und niemand eilte dem Einbeinigen zu Hilfe. Stattdessen stand die Menge da. Schweigend. Lauernd.
    Der Einbeinige kauerte an der Wand. Schwarz und glänzend troff das Blut ihm den Hals hinab und versickerte im Kragen seiner Jacke, die anscheinend noch vor nicht allzu langer Zeit zu einem seidenen Frack gehört hatte, nun aber vor Dreck starrte.
    Noch immer warteten die Menschen und es war, als verdichtete sich die Dunkelheit der Straße in diesem Moment zu einer beinahe schon greifbaren Schwärze, die einem in jede Pore kroch. Als hätte jemand einen Sack Kohlenstaub über uns ausgeleert, der die Gaslaterne an der Ecke und die Lichter der Kneipe nun in dunkle Schleier hüllte. Ich hatte das Gefühl, kaum atmen zu können. Am besten, ich verschwinde von hier, überlegte ich und wollte mich abwenden.
    Da hob der Einbeinige den Blick.
    »Barnabas!« Meine Stimme hallte über die Schaulustigen hinweg und wurde von den Häuserwänden zurückgeworfen, bevor die Finsternis sie verschlang. Unzählige Köpfe wandten sich in meine Richtung.
    »Du kennst das Schwein?« Eine Frau spuckte mir vor die Füße. »Bist du etwa für ihn?«
    »Ich …«, stammelte ich und tastete nach der Sichel in der Tasche meines Kleides. Noch immer fragte ich mich, warum der Bettler mir ein so wertvolles Geschenk gemacht hatte.
    Auch Barnabas sah nun zu mir herüber. Er hob sogar die Hand zum Gruß. Und trotz seines ausgerenkten Kiefers lächelte er mir zu. Es sah grauenhaft aus. Eine verzerrte Fratze. Aber es sollte ein Lächeln sein, das erkannte ich an seinen Augen. Mit beiden Händen griff er sein Kinn und schob das Gelenk zurück in die Pfanne. Das Knirschen erschien mir ohrenbetäubend. Genau wie der Atem der Menschen, deren Leiber auf mich zurückten. Zorn lag auf ihren Gesichtern, während Barnabas seine dürren Finger in den Dreck zu seinen Füßen grub und einige Bröckchen in seinen Mund rieseln ließ.
    »Sie gehört zu ihm«, zischte jemand irgendwo hinter mir.
    »Na, und wenn schon?«, sagte ich und wich einen Schritt zurück. Mein Rücken prallte gegen die Brust eines Fremden.
    »Na und?« ,wiederholten mehrere Stimmen gleichzeitig. Es klang hämisch. Und bedrohlich.
    »Weißt du denn nicht, was er im Auftrag seines Herrn tut?«, keifte ein altes Weib.
    Vom Rande des Holzringes aus zwinkerte Barnabas mir zu. Stumm formten seine Lippen ein einziges Wort: Lauf!
    Einen Moment lang starrte ich den Bettler noch an. Brauchte er nicht meine Hilfe? Warum waren diese Leute so wütend? Was hatte er ihnen getan? Und von welchem Herrn hatte die Frau gesprochen? Barnabas schob sich genießerisch eine weitere Handvoll Dreck in den Mund. Jemand grapschte nach meinem Kleid. Da endlich gelang es mir, mich aus meiner Erstarrung zu lösen. Mit gesenktem Kopf stürzte ich los, rempelte mich durch die grollende Menge, stieß einen Mann zur Seite und rannte über das Kopfsteinpflaster.
    »Miststück!«, rief eine greise Stimme mir hinterher.
    Ohne mich noch einmal umzusehen, warf ich mich in das Gewirr der Straßen und Gassen, lief mal in die eine, mal in die andere Richtung, meinte das Geräusch von Schritten hinter mir zu hören und brach mit dem Fuß in eine der Eispfützen ein. Bis ich mich schließlich wieder darauf konzentrierte, mich nach Osten zu wenden. Wenig später erreichte ich die Rue Monsieur le Coq am Rande des Eiffelturms, die ich bereits in meiner ersten Nacht in Eisenheim entlanggelaufen war. Hastig drängte ich mich an einer Frau vorbei, die einen Schirm trug, der sie nicht vor Sonne schützte, sondern stattdessen welche zu spenden schien, wärmende Strahlen in der ewigen Finsternis. Fast war ich versucht, mich bei ihr unterzuhaken und ein Stück die Straße entlangzuspazieren.
    Doch dann wuchs vor mir die mächtige Silhouette Notre-Dames in den Nachthimmel. Außer Atem lehnte ich meinen Kopf an die metallenen Torflügel.
    Ein Dienstmädchen mit Spitzenhaube öffnete mir. Es war unmöglich zu sagen, ob es dasselbe Mädchen war wie bei meiner Ankunft beim Grauen Bund vor zwei Wochen.
    »Äh«, begann ich und merkte bei der Gelegenheit, dass ich mir gar nicht überlegt hatte, was ich sagen wollte. Man konnte wahrscheinlich nicht einfach so in das Hauptquartier des Ordens hereinspazieren, oder? »Also, ich heiße Flora Gerstmann und –«
    »Aber das weiß ich doch, gnädiges Fräulein«, sagte das Mädchen mit gesenktem Blick und verschwand, kaum dass ich die

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