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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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überzogen waren. Knirschend zerbarsten sie unter meinen Füßen, als ich die Straße hinunterlief. Es war dunkel, wie immer. Ohne Sieben wäre ich wahrscheinlich hoffnungslos verloren gewesen. Ich fror.
    Längst hatte ich den Palast hinter mir gelassen, der Teil Eisenheims, in dem ich mich nun befand, war mir gänzlich unbekannt. Wie schlafende Ungeheuer wuchsen die Häuser zu allen Seiten in den Himmel und sahen mich aus toten Augen an, während ich an ihnen vorbeihastete. Ich hatte mir das Modell der Schattenstadt so gut wie möglich einzuprägen versucht. Wenn ich mich in Richtung Westen hielt, würde ich früher oder später sicher nach Notre-Dame gelangen, wo ich mir den Brief meiner Seele noch einmal genauer ansehen wollte.
    Der Weg war lang und allmählich begriff ich, dass ich mich bereits in Krummsen befinden musste, so viele Häuser schienen unbewohnt. Nur vereinzelt glommen Lichter hinter schmutzigen Scheiben, wie Glühwürmchen in der Nacht. Die meisten Fenster waren leer und kalt, einige mit Brettern vernagelt, andere mit Papier zugeklebt. Haustüren standen offen oder hingen schräg in den Angeln. Ganze Straßenzüge schienen von innen hohl zu sein. Es war, als liefe ich durch eine Geisterstadt.
    In einem Hinterhof wühlte ein Mann im Müll. Ein Tier, das ich für eine Ratte hielt, huschte zwischen den metallenen Tonnen hervor und direkt vor meinen Füßen über die Straße. Auf der gegenüberliegenden Seite verschwand es in einem Loch in der Fassade eines Hauses. Über mir knatterte der Motor eines Zeppelins. Zu fliegen wäre sicher bequemer und schneller gewesen. Doch abgesehen davon, dass ich nicht wusste, wo sich die Sturmdorne befanden, besaß ich auch keine von den Silbermünzen, mit denen man in der Schattenwelt bezahlte, um mir eine Fahrkarte zu kaufen. Stattdessen beschleunigte ich meine Schritte und kam kurz darauf in ein genauso schäbiges, aber etwas belebteres Viertel.
    Ich begegnete einer Frau mit einem Einkaufskorb und einem Mann, der seinen schmutzigen Hut so tief im Gesicht trug, dass seine Augen in undurchdringlicher Schwärze lagen. Der Wind wehte Stimmen zu mir herüber, die rasch lauter wurden. Das Murmeln einer Ansammlung von Menschen, unterbrochen von vereinzelten Rufen. Der Geruch von Bier und Schweiß stieg mir in die Nase, und als ich um die nächste Ecke bog, sah ich auch, woher er stammte: Zwischen einer verrotteten Villa und einem fünfstöckigen viktorianischen Stadthaus duckte sich ein Fachwerkhäuschen in der Farbe von altem Haferschleim, als wolle es sich verstecken.
    Durch die schmierigen Butzenscheiben der Front erkannte ich Fässer, die sich bis zur Decke zu stapeln schienen, davor eine Art Tresen, hinter dem eine zahnlose Frau Getränke einschenkte. Doch die Menschen, die ich gehört hatte, befanden sich nicht in der Kneipe. Sie drängten sich um einen brusthohen Holzzaun, der mitten auf der Straße errichtet worden war. Nichts weiter als ein schmutziger, eilig zusammengezimmerter Ring, in dem zwei abgerissene Gestalten sich einen Faustkampf lieferten.
    Das heißt, nur einer von beiden kämpfte, der andere wurde nach Strich und Faden verprügelt. Hiebe hagelten auf ihn nieder wie die Tropfen eines Platzregens. Er wehrte sich nicht. Er hob nicht einmal die Arme über den Kopf, um sich zu schützen, sondern stand einfach da. Denn er hatte ohnehin nicht die geringste Chance, mager und klein, wie er war. Und noch dazu mit nur einem Bein!
    Sein Gegner, ein Hüne mit Händen wie Bratpfannen, hieb gnadenlos auf ihn ein. Immer wieder traf er den von borstigem Haar bewachsenen Schädel des Einbeinigen, der sich bereits mit beiden Händen am Zaun abstützte und gerade mit einem Krachen dagegengeschleudert wurde. Der Einbeinige blutete jetzt aus dem Ohr, was die Menge mit einem Johlen quittierte. Zwischen ungewaschenen Männern und Frauen schob ich mich weiter nach vorn, um besser sehen zu können.
    »Gib’s dem Schwein, los. Er hat meine Familie auf dem Gewissen«, grölte jemand neben mir so plötzlich, dass ich zusammenzuckte. Eine Wolke abgestandenen Bieratems schlug mir ins Gesicht, trotzdem drängelte ich mich näher an den Ring heran. Irgendetwas war seltsam an diesem Kampf. Nur was?
    Der Hüne schritt mit erhobenen Fäusten auf den Einbeinigen zu. Mit einem Grinsen holte er aus. Ein fürchterliches Knacken ertönte, als er den Kiefer seines Gegners traf und dabei ausrenkte, sodass er grotesk zur Seite stand. Mit einem Mal war es totenstill.
    Wortlos verließ der Hüne

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