Stadt der blauen Paläste
Gefühl. Es schien ihr, dass alles von ihr abfiel. Sie hatte das Gefühl, als würden ihre Kleider, ihre Haut, ihre Knochen auf den Boden scheppern, ihr Blut nach unten rinnen, irgendwohin ins Meer. Was übrig blieb, war ihre Seele. So schien es ihr zumindest, auch wenn sie sich bei diesem Gedanken mehr als lächerlich vorkam, wie ein Dichter in einem stümperhaften ersten Gedicht, das ganz gewiss nie ein Sonett werden würde.
»Ihr seid sicher, dass Ihr in diesem Augenblick hier auf dieser Brücke sein wollt?«, fragte Renzo nach einer Weile und machte dem Kapitän mit einer Handbewegung klar, dass er allein sein wollte.
Sie sah ihn an, suchte nach dieser Spur eines Lächelns, das sie inzwischen kannte. Aber sie konnte es nicht entdecken.
»Ich bin nicht sicher, ob das, was Ihr in jener Nacht des carnevale auf diesem Schiff gesagt habt, auch heute noch seine Gültigkeit hat«, sagte sie stockend. »Und vor allem weiß ich nicht, was es wirklich bedeutet.«
»Es bedeutet das, was Ihr Euch seit jener Nacht vorstellt«, sagte er, noch immer ohne die Andeutung eines Lächelns, »wovon Ihr geträumt habt in den letzten vier Wochen.«
»Und weshalb habt Ihr das dann nicht gesagt, nicht ausgesprochen, es nicht deutlich gemacht?«
Er blickte kurz über sie hinweg, über die Mole hinweg, kniff die Augen zusammen. »Weil die Entscheidung von Euch kommen muss. Ich konnte und wollte sie Euch nicht auf dem Servierteller präsentieren wie Euren morgendlichen Kakaotrunk.«
»Wenn es das bedeutet, was ich glaube und wovon ich Eurer Meinung nach die letzten vier Wochen geträumt habe, dann bedeutet es, dass Ihr erwartet habt, dass Euch eine Frau einen Antrag macht?«
Sie beobachtete ihn und spürte, wie das karge Lächeln endlich in sein Gesicht zog.
»Natürlich nicht irgendeine Frau. Nur eine ganz bestimmte. Ihr.«
Sie schüttelte den Kopf und versuchte ruhig zu bleiben.
»Wisst Ihr, ich habe nicht sonderlich viel Übung mit Anträgen, ich weiß nicht mal, wie Männer sich dabei verhalten. Ist ein Kniefall genehm?«
»Ich denke, Ihr habt bereits einige Anträge bekommen«, sagte er dann und blickte wieder zu der Mole hinüber, »sogar mehrere. Wenn ich recht informiert bin, waren es sogar drei.«
Sie runzelte die Stirn.
»Drei? Sagtet Ihr drei?«
»Nun, der Erste liegt ja wohl eine Weile zurück und –«
»Meint Ihr etwa Lukas?«, fragte sie irritiert. »Der zählt ganz gewiss nicht. Und außerdem hat mein Vater damals gewünscht, dass ich diesen Mann –«
»Nun, dann eben Leonardo«, unterbrach er sie, »oder täusche ich mich da?«
»Leonardo«, sagte sie rasch, »also Leonardo. Der zählt auch nicht. Er war wie ein Bruder für mich. Ich konnte ihn gewiss nicht annehmen, weil …«, sie stockte.
»Weil was?«
»Ich empfand nichts für ihn.«
»Wirklich«, spottete er, »er hat Euch nie geküsst?«
»Eine Schwester küsst man nicht, und …«, sie wehrte ab, als sie in sein Gesicht blickte, »nein, erwähnt jetzt bitte nicht Riccardo.«
»Ich erwähne aber Riccardo«, sagte Renzo entschieden. »Er kann nicht länger bei jedem Gespräch ausgespart bleiben. Er ist nicht vergessen. Er ist gegenwärtig. Immer. Hier«, sein Blick wanderte über die Wanten auf das Meer hinaus, an den Kai. »Und deswegen darf man auch über ihn reden.«
Sie starrte ihn an, spürte ihr Gesicht starr werden.
»Ich darf über ihn reden, solang ich möchte?«, fragte sie dann atemlos. »Und es würde Euch nie langweilig werden? Oder gar stören?«
»Ihr könnt über ihn reden bis nach Zypern oder nach Alexandria, wenn Ihr wollt«, sagte er dann und deutete zum Ufer hinüber. »Aber zuvor bekommt Ihr noch Besuch.«
Sie drehte sich um, sah zwei Gestalten den Kai entlanghasten. Die eine rundlich und wie eine Ente watschelnd, die andere groß und kräftig, fast wie ein Mann. Die runde Gestalt blieb hinter der großen zurück, griff sich ständig an die Brust und hob den Gegenstand, den sie in der Hand hielt, weit von sich gestreckt. Die große Gestalt wandte sich von Zeit zu Zeit um, gab ihren Vorsprung auf, spornte die andere an und begann dem Schiff zu winken.
»Sie wollen zu mir«, sagte Crestina erregt und wandte sich zu Renzo. »Vermutlich sind es meine Freundinnen.«
Renzo reichte ihr ein kurzes Fernrohr, sie hob es an die Augen.
»Es sind Lea und Margarete«, sagte sie dann hastig. »Haben wir noch Zeit?«
Renzo gab einem Offizier ein Zeichen, das signalisieren sollte, dass das Schiff noch nicht zur Abfahrt bereit
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