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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Misere. Aus jeder Seite des kritisierten Buches sprach die Verbundenheit des Autors mit dem Land, über das er schrieb. Woanders hätte ernicht leben wollen. Daß in unserer Gesellschaft kein Künstler zugrunde gehen sollte, wie in den Ausbeutergesellschaften vor uns und neben uns, war ein Codex, über den wir uns mit den Regierenden einig glaubten.
    Ich erinnere mich an einen kalifornischen Abend. Weihnachten mit seiner Hitze bis zu 25 Grad war vorbei. Das gesellige Leben kam zum Erliegen, niemand schien Lust zu haben, sich abends mit anderen zu treffen. Vielleicht fühlte nur ich mich vereinsamt, sogar zurückgewiesen. Aus dem CENTER hatte ich einen schweren Packen von Zeitungen und Faxblättern mitgenommen, mein Selbstschutz versagte, ich las die Artikel und die Beiträge, die sich inzwischen in verschiedenen Sprachen mit meinem Fall befaßten, hintereinander weg. Die Meldung darüber lief nicht nur innerhalb Deutschlands, auch in den USA und in fast allen europäischen Ländern durch die Nachrichten und durch die Zeitungen.
    Nach langem Zögern rief ich in Berlin an, niemand hörte, ich stellte mir alle vertrauten Menschen in irgendeiner heiteren Runde vor, in einem hellen Lokal, mit den Gläsern anstoßend. Ich fragte mich ernsthaft, was ich machen sollte. Wie ich die Nacht überstehen sollte. Ich blätterte in dem Buch der Nonne Perma, die mir mitteilte, daß jeder Tag, jede einzelne Minute meines Lebens genau richtig für mich sei und daß ich dies akzeptieren solle, um mein Gemüt im Gleichgewicht zu halten. Ich stellte den Fernseher an und sah einen Bericht über krebskranke Frauen, die sich zu Übungen gegen die Angst zusammenfanden und eine nach der anderen starben. Ich legte mich ins Bett und suchte angestrengt nach Beweisen, die ich für eine Verteidigung hätte brauchen können. Ich fand keine. Keinen Zipfel des overcoat des Dr. Freud konnte ich ergreifen. Ich spürte, daß ich in einen Strudel geriet, und begriff, daß ich in Gefahr war. Der Grund des Strudels, an dem ich nicht mehr da wäre, kam mir sehr verlockend vor, als das einzig Mögliche. Ich überlegte, wie ich es machen könnte, das lenkte mich etwas ab. Die Stimme in mir, die mich gemahnte, daß ich denanderen diesen Kummer nicht antun dürfe; die mir riet, wenigstens den nächsten Tag noch abzuwarten, war sehr leise. Ich nahm einige Schlaftabletten, achtete aber darauf, daß es nicht zu viele wären.
    Ich schlief ein, oder wurde bewußtlos, und erlebte, wie ich starb. Es war kein Traum, es war eine andere Art von Erleben. Es war ein Erkalten der Glieder von den Füßen her aufwärts, bei vollem Bewußtsein, ich wußte, was geschah, ohne mich zu ängstigen, ich wußte, die Kältewelle würde das Herz erreichen, ich erstarrte nach und nach, mit offenen Augen, ich war tot, aber ich konnte noch sehen, ich sah meine Umgebung, Wände, Fenster, ich sah auch mich daliegen auf einem breiten Lager. Es war nicht schlimm. Als ich erwachte, es war noch dunkel, brauchte ich lange, mir klarzumachen, daß ich nicht tot war, mich aus der Starre herauszuarbeiten. Ich dachte, jetzt weiß ich, wie es ist, wenn man stirbt, und habe keine Angst mehr davor. Ich empfand etwas wie einen kleinen Trost.
    Die nächsten Tage, daran erinnere ich mich, waren sehr nüchtern. Ich tat, was zu tun war, las alles, was man mir zuschickte, sah, wie die Flut des Papiers anschwoll, und empfand nichts dabei. Ich war ja tot, das war gut, es betraf mich nicht. Wie immer saß ich stundenlang an meinem Maschinchen und schrieb alles auf, was ich sah und hörte. Im CENTER blickte man mich von der Seite an und ging mir aus dem Weg, auch das war gut.
    Ein leitender Angestellter, der für unsere Betreuung verantwortlich war, lud mich in ein teures steriles Restaurant ein und wollte »meine Version der Geschichte« hören. Sie kann ihn nicht befriedigt haben. Ich hörte aus seinen verlegenen Sätzen heraus, daß er meine Anwesenheit im CENTER gegenüber seinen Vorgesetzten auf der höheren Ebene zu rechtfertigen hatte, die wiederum einer aufgescheuchten Öffentlichkeit Rede und Antwort stehen mußten. Man nehme hier »so etwas« sehr genau, das wisse ich wohl. Ich fragte, ob ich abreisen solle. Erschrocken wehrte er ab. Man stelle sich hier hinter seine Gäste.Vor Jahren habe man sogar einmal einen Wissenschaftler gehalten, von dem sich herausstellte, daß er nicht ganz unbedeutend in einer Nazi-Organisation gewesen sei. Ich hatte große Mühe, einen bösen Lachanfall zu unterdrücken.
    Ein

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