Stadt der Engel
tot ist. Über das alles bekennend zu schreiben, würde mich zerstören. Ich dachte: Gar nicht darüber zu schreiben hätte ihn erstickt. Den Selbstversuch abbrechen, den es bedeutet, zu schreiben: sich selbst kennenlernen wollen, bis auf den Grund, dachte ich, hätte ähnliche Folgen wie der Abbruch einer lebenserhaltenden Therapie bei einer schweren Krankheit.
Ist denn das Leben, wie wir es führen müssen, eine schwere Krankheit? fragte ich mich.
Wie lebt man in einer Diktatur? Das Wort, auf unsereVerhältnisse bezogen, kam mit der »Wende«. Was eine Diktatur ist, glaubte ich ja zu wissen, bis ich sechzehn wurde, hatte ich sie erlebt, sie war unvergleichlich, dachte ich, mit den späteren vier Jahrzehnten, die ich auch erlebt hatte, und wehrte mich gegen die Gleichsetzung. Aber die Frage begleitete mich: Wie lebt man in einer Diktatur?
Ich sitze, anderthalb Jahrzehnte, nachdem die Frage mir gestellt wurde, in meinem Arbeitszimmer vor einem dicken Stapel von Manuskriptblättern, die unvermutet vor kurzem aufgetaucht sind, aus dem Nachlaß eines Kollegen, den ich ganz gut kannte, der jünger war als ich und der früh gestorben ist. Er hat sich zu Tode getrunken, hieß es, und wir wußten alle, warum. Den Anfang der Tragödie, so muß man die Kette von Vorfällen wohl nennen, wenn an deren Ende ein Toter ist, hast du miterlebt, ihn nie vergessen: Eine Versammlung von Autoren, zusammengerufen von »höchster Stelle«, in dem neuen Staatsratsgebäude, in dem die Treppen mit Teppichen belegt waren und die schweren Vorhänge vor den hohen Fenstern sich auf Knopfdruck öffneten und schlossen. Der Arbeiter- und Bauernstaat konnte sich das jetzt leisten. Gedrückte, zugleich gespannte Stimmung, von halbwegs informierten Funktionären wurde Gefahr im Verzug signalisiert: Wieder einmal sollte der Literatur und den Literaten die Schuld an gesellschaftlichen Mißständen, diesmal an Ausschreitungen in der Jugendszene, zugeschoben werden. Die Literatur liefere den Jugendlichen die Vorbilder für ihr staatsfeindliches Betragen. Ein Beispiel lag auf dem Tisch: der Vorabdruck eines Kapitels aus einem noch unfertigen Romanmanuskript, »Rummelplatz«, dessen Autor genau das getan hatte, was die Partei vor nicht zu langer Zeit von den Schriftstellern verlangt hatte: Er war in einem der größten Betriebe gewesen, hatte mit den Arbeitern gelebt und gearbeitet und die Entwicklung einiger Figuren in diesem Milieu geschildert. Die Zeitschrift hatte ein Kapitel abgedruckt, wilde Zustände aus den ersten Jahren dieses Betriebs, der SAG WISMUT, wurden beschrieben, der Uran für die Rüstung inder Sowjetunion förderte und der damit geholfen habe, den Weltfrieden zu sichern. Wem sollte das nützen, fragte der Generalsekretär der Partei, diese längst überwundenen Zustände jetzt in einem Roman noch einmal hochzuspielen? Meine man denn, die Partei habe nicht gewußt, wie es damals dort zuging? Sie habe es gewußt, aber sie mußte mit den Menschen arbeiten, die nun einmal da waren, alte Nazis darunter, Kriminelle darunter, und sie habe sie, so gut es eben ging, erzogen. Manche von ihnen hätten heute leitende Stellungen in diesem oder einem anderen großen Betrieb. Manche seien endgültig abgerutscht, andere seien gen Westen verschwunden, nun gut, mit Verlusten müsse man immer rechnen. Aber was wolle der Genosse Schriftsteller damit erreichen, wenn er den heutigen Lesern, besonders den Jugendlichen, Saufgelage schildere? Vergewaltigungen? Dem Generalsekretär wurde das Literaturheft zugeschoben, in dem die beanstandeten Stellen des Kapitels angestrichen waren, er las sie anscheinend jetzt zum ersten Mal.
Eine lange peinliche Stille, vorzeitig wurde die Pause angeordnet, mit Getränken und Häppchen, die unteren Funktionäre flehten euch an, doch um Gottes willen etwas zu sagen. Es gibt eine Mitschrift deines Beitrags, der versuchte, die Notwendigkeit von Konflikten in der Literatur zu verteidigen und einen anderen Umgang mit »der Jugend« anzumahnen. Auch andere setzten sich für den angegriffenen Autor ein, am Ende sah es so aus, als wäre das Schlimmste noch einmal verhindert worden.
Das war 1965. Glaubten wir damals noch, durch Reden, durch Argumente die Meinung der Regierenden, sogar ihre Handlungen beeinflussen zu können? Die Realität, dachten wir, wäre doch ein mächtiges Argument, wenn man sie nur wahrnähme. Macht und Geist vereint, eine typisch deutsche Intellektuellen-Illusion, schon einmal gescheitert an der deutschen
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