Stadt der Engel
zu unterstützen. Marx habe leider nichts von Wirtschaft verstanden, sie habe beide Bände des »Kapital« gelesen und das alles mit ihrem Mann diskutiert. Dann mußte sie aber schnell gehen, ohne meine Mahnung hätte sie ihren Flug verpaßt. Sie umarmte mich zum Abschied. Ich solle doch nicht bekümmert sein, wenn wir in manchem verschiedener Ansicht seien. Sie sei und bleibe ein Fan von mir.
Betäubt blieb ich zurück. Wenn ich das in einem Buch lesen würde, dachte ich, das könnte ich nicht glauben. Nie würde ich mir erlauben, ein derartiges Klischee zu verwenden. Aber warum sollte jemand nicht Fragen stellen dürfen, auch wenn sie, teilweise wegen Ahnungslosigkeit, verletzend waren. Und wie sollte denn ein Verständnis aufkommen, wenn man nicht auf diese Fragen einging. Ich hatte wieder dieses Gefühl von Vergeblichkeit: Es hatte alles keinen Sinn, wir hatten keine Chance. Wer aber waren »wir«?
JEDE ZEILE, DIE ICH JETZT NOCH SCHREIBE, WIRD GEGEN MICH VERWENDET WERDEN
JEDE ZEILE, DIE ICH JETZT NOCH SCHREIBE, WIRD GEGEN MICH VERWENDET WERDEN Aber war das nicht immer so oder jedenfalls lange schon, und hätte ich mich nicht längst daran gewöhnen können oder müssen. Was hindert mich, diese Aufzeichnungen einfach abzubrechen.
Ich lief los, es war noch hell, das normale Leben der normalen Leute, die mich überholten, mir auf der Ocean Park Promenade entgegenkamen. Trostlos, trostlos, wann hatte ich dieses Wort schon einmal unausgesetzt wiederholt, wie ein Mantra. Es war, als du über den Akten saßest, ein Vergiftungsgefühl hatte dich gepackt, eine Art dir bisher nicht bekannter Übelkeit, als du auf die Schriftstücke stießest, die sich mit deinen Arbeiten befaßten. IM »Jenny«, offenbar germanistisch gebildet, wurde von Buch zu Buch besorgter über dein Abgleiten in negativfeindliche ideologische Strömungen, es kam, wie es kommen mußte, schließlich konnte sie in einem zugegeben etwas komplizierten Text nichts anderes mehr sehen als ein Geflecht geheimer, raffiniert verschlüsselter staatsfeindlicher Botschaften, du reagiertest dich mit Gelächter ab, aber das feine Gift drang in dich ein und wirkte, trostlos, trostlos, sagtest du vor dich hin, wenn du von jener Behörde wegfuhrst, und dagegen sagte eine Stimme in dir, es gibt Schlimmeres, was ja stimmte.
Ich setzte mich noch ein wenig auf eine Bank im Ocean Park, in der letzten Sonne, wollte Licht tanken, ein kleiner, knubbliger Mann, der etwa so alt sein mochte wie ich, setzte sich dazu, zeigte auf den Ozean, in dem gerade die Sonne unterging: That’s wonderful, isn’t it? – Yes, sagte ich. Marvellous. Er sah, daß ich ein Buch dabei hatte, im Titel kam das Wort Patriarchat vor, achtungsvoll fragte er, ob ich »studiere«, ich sagte: Nur lesen. Er wollte reden. Er erzählte, wo in L. A. er wohne, daß er vierzig Minuten mit dem Bus hierher brauche, er liebe diese Stelle. Oh, ich wohnte in Santa Monica? Was für ein Glück! – Nur für neun Monate, sagte ich, I am German.Das interessierte den Mann. Er sei aus Irland hier eingewandert, schon vor zwanzig Jahren. Er wollte wissen, wie es jetzt nach der Wiedervereinigung bei uns sei: Better or worse? Ich sagte: Different. Difficult. Er meinte, immer, wenn zwei verschiedene Dinge zusammengeschmissen würden, gebe es eine schwierige Übergangszeit. Ob ich nicht am Ende lieber hier bleiben wolle? – Nein, nein, sagte ich. Meine Familie ist auch in Berlin. – Das verstand er. Ob mich denn mein Mann ganz alleine hierher habe gehen lassen. – Yes, sagte ich. He did. – Hätte ich eine solche Szene in einem deutschen Park erleben können, fragte ich mich.
Wie sollte ich diese Nacht verbringen? Und die nächste, und wieder und wieder eine? Nein, ich ging nicht mehr zum CENTER, um meine Post abzuholen, die Zeitungen, die Faxe, ich muß nicht alles gleich wissen, dachte ich.
Peter Gutman kam nicht ans Telefon, er erlaubte es sich, nicht da zu sein, wenn man ihn brauchte. Die Enterprise-Mannschaft im television konnte mich heute abend nicht fesseln. Rotwein war da, Käse. Ich lief in meinem Apartment auf und ab. Da waren die Thomas-Mann-Tagebücher, in denen ich blättern konnte, unsystematisch Stellen herausgreifend. Mit Rührung las ich, wie er von seiner letzten großen Liebe schrieb, dem Franzl. Wie er sich fragte, ob er die Tagebücher verbrennen solle oder ob er von der Nachwelt gekannt sein wolle. Schließlich: Sollen sie mich kennen, aber erst nach zwanzig, fünfundzwanzig Jahren, wenn alles
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