Stadt der Engel
Abwegigkeit. Ich sah, daß Caroline die Haare sorgfältig, aber offenbar viel zu kurz schnitt, summer cut, nun meinetwegen. Der Mensch ist gut, man kann ihn bessern, ja was denn sonst. Wirklich ans Herz rührend war Carolines Geschichte von ihrem gefundenen und wieder verlorenen amerikanischen Freund auch nicht, irren ist menschlich, sagte sie, und ich sagte: Da haben Sie aber recht.
Ich wußte, im ms. victoria wartete eine Journalistin aus Deutschland auf mich, der ich nicht hatte ausweichen können, mir war heiß, und ich fürchtete mich vor dem Aufstehen, wahrscheinlich war mein Gelenk wieder blockiert. Wahrscheinlich könnte Dr. Freud mir erklären, warum mein Körper, oder wer immer dafür zuständig war, mich mehr und mehr am Laufen hindern wollte. Wahrscheinlich würde er mir raten, jeden Gedanken daran, daß sein Mantel mich beschützen könnte, aufzugeben. Wahrscheinlich hätte er mir geraten, meinem Instinkt zu folgen und der Begegnung mit Frau Leisegang gar nicht erst zuzustimmen. Aber da ich meines Instinkts nicht mehr sicher war und da Frau Leisegang es verstand, das Treffen mit ihr als eine Art Pflichttermin darzustellen, unterdrückte ich mein Unbehagen gewaltsam und traf mich mit ihr.
Es erwartete mich eine hoch aufgeschossene Blondine mit einem Pferdeschwanz, die kurze rote Hosen trug, eine glänzende beigefarbene Bluse, mit bunten Bändern und Hüten bedruckt,und dazu eine kurze Blouson-Jacke in Rot und Gelb. Sie fing sofort zu reden an und hörte in den nächsten Stunden nicht mehr auf. Ihre Krankheit, die sie nach Amerika geführt hatte und die sie in Palm Springs in der Wüste auszuheilen suchte. Ihr Vater, der schuld daran war, daß sie keinen Tropfen Alkohol trank, allerdings war sie leider eine Kettenraucherin. Wie sie ihren Mann kennengelernt hatte. Wie der ihr Verbindungen mit Verlagen besorgen konnte, wo es Intrigen gegen sie gab, genau wie beim Fernsehen, jeder dort war gegen sie, so daß sie in tiefe Depressionen verfiel und jetzt nur noch tageweise und mit konkreten Aufträgen für den Sender arbeitete. Ich hatte begriffen: Ihr konkreter Auftrag war ich.
Ich merkte bald, daß ihre Fragen ihr wichtiger waren als meine Antworten, die sie schon ausgeformt mit sich trug und an denen ich kaum noch etwas ändern konnte. Sie habe gewissen Veröffentlichungen entnommen, daß ich schon früh keine Illusionen mehr gegenüber dem Staat gehabt hätte – warum ich denn nichts gegen diesen Staat unternommen habe. Warum ich denn dort geblieben sei. Ich hätte mich beim Schreiben doch andauernd verbiegen müssen. Beispiele dafür fielen ihr gerade nicht ein. Warum ich denn anstelle von »Kassandra« nicht lieber ein Buch über die Mißstände in der DDR geschrieben hätte. Wie es sich denn in einer Diktatur lebe. Sie kenne die DDR nur von zweimaligem Messebesuch in Leipzig. Meine wichtigsten Bücher habe sie nicht gelesen, aber sie sei ein Fan von mir, wirklich. Sie werde einen Film über Intellektuelle in der DDR machen. Bei uns, sagte sie, kann man alles, was man will, öffentlich sagen.
Ich war hilf- und sprachlos. Ich sah, alle Erklärungsversuche würden nichts nützen. Ich versuchte ihr entgegenzuhalten, wie die Öffentlichkeit in der Bundesrepublik jetzt mit meiner Akte umging. Ja. Sie hätten natürlich diesen investigativen Journalismus, das sei ganz grauenhaft. Ich könne mir überhaupt nicht vorstellen, was für üble Leute in den Redaktionen säßen, wirkliche Spürhunde. Sie hätte das früher auch nicht geglaubt. Abersei es denn so wichtig, was man öffentlich über mich sage. Ich machte sie darauf aufmerksam, daß Journalisten, die sich um eine sachliche Darstellung bemüht hätten, von ihren Chefs getadelt worden seien. Daß weder sie noch sonst jemand den Mut habe, über die Zustände in den Redaktionen, die sie mir gerade geschildert habe, öffentlich zu reden oder zu schreiben; daß sie alle, um an der Futterkrippe zu bleiben, schön stillhielten.
Ja, der Kapitalismus – aber sie würde die westliche Welt nicht »Kapitalismus« nennen, sondern »Freie Marktwirtschaft« –, da sei natürlich jeder Mensch dem anderen ein Wolf, das bringe der Wettbewerb so mit sich, aber sie habe fast die ganze Welt bereist und habe nirgends eine bessere Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung gefunden. Es kam noch ihre Befürwortung des Golfkriegs, die Amerikaner seien jetzt so in Schwierigkeiten, weil sie überall auf der Welt die Bedrohten schützen und ihr Geld hingeben müßten, um die Armen
Weitere Kostenlose Bücher