Stadt der Engel
Selbsterhaltungstrieb scheint noch funktioniert zu haben, ich achtete darauf, daß ich jeden Tag um die Mittagszeit eine Stunde auf meiner Bank im Ocean Park verbrachte und aufs Meer sah. Irgendwann hatte Peter Gutman das ausgekundschaftet, er kam und setzte sich einfach dazu. Schwieg. Sagte endlich: Sie vernachlässigen Ihre Freunde, Madame. Darauf zuckte ich die Achseln. Nach wieder einer Weile wollte er wissen, ob ich gedächte, irgendwann wieder einmal am Leben teilzunehmen. Aber das wußte ich doch nicht. Ob ich denn meinte, aus dieser Isolierung sei irgend etwas zu gewinnen. Aber darum ging es doch gar nicht. Worum es denn sonst gehe? Da wußte ich es: Es ging darum, eine Gefahrenzone zu überstehen. Sie zu durchqueren mit möglichst wenig Empfindung. Als Mittel der Schmerzvermeidung. Aber das sagte ich nicht.
Nun gut, sagte Peter Gutman. Er wolle mir nur mitteilen: Er habe sich kundig gemacht. Habe einiges gelesen. Habe wohl auch einiges verstanden. Ihm sei klar, daß ich jetzt nicht auf das hören werde, was er mir sagen wolle. Doch möchte er es lieber zu früh als zu spät sagen: Ich steigere mich da in eine unnötige Psychose hinein. Der Anlaß dafür sei, objektiv betrachtet, gering. Natürlich bliesen die Medien ihn auf. Wieso lasse ich das so an mich heran? Nähme ich mich so ernst? Habe ich mich denn als fehlerfrei und tadellos sehen wollen? Sei das nicht eine merkwürdige Art von Hochmut?
Gerade das hätte mir nicht passieren dürfen, sagte ich. Es war eine Art innerer Kehrreim.
Na dann, sagte Peter Gutman, wenn es so ist, dann wünsche ich dir, daß du eines Tages froh darüber bist, daß gerade dir das passiert ist.
Dazu ist es tatsächlich gekommen, Wochen später, als ichzu meiner Erleichterung einem Menschen, der es besser hätte wissen müssen und der in einem der zahllosen Zeitungsartikel ein heuchlerisches Bedauern über meinen angeblichen Fehltritt ausgedrückt hatte, in einem zornigen Brief schreiben konnte: Rutscht mir doch alle den Buckel runter. Vorher aber mußte noch einiges geschehen. Das Telefon mußte ein Eigenleben beginnen, es mußte mir Stimmen zutragen, aus einer Welt, die mir abhanden gekommen war und in der man anscheinend weiter ein normales Leben führte. Grace Paley mußte anrufen aus ihrem Waldhaus von der Ostküste, sie mußte sagen: Du solltest wissen, I am with you. Die Welt wird immer schlechter, aber die Menschen werden immer besser. Lew Kopelew mußte anrufen und mich beschwören, ich solle nur mir und meinen Kindern etwas erklären, nicht den Kleingeistern rundum. Während wir sprachen, sah ich ihn wieder durch sein Moskau gehen, mit seinem Patriarchenbart, kräftig ausschreitend an seinem Stock, wütend über verleumderische Zeitungsartikel, besorgt über eine vielleicht bevorstehende neue antisemitische Welle. Ich sah das Schriftstellerheim bei Leningrad vor mir, wo man schon am Morgen Kotelett und fetten Kascha essen sollte, sah euch mit dem alten Übersetzer-Ehepaar auf der Treppe sitzen, ihren Erzählungen zuhörend über die Intrigen gegen die Achmatowa, über deren Verurteilung in Versammlungen, sah die Blumen, die immer auf dem Grab der Achmatowa lagen, das nahebei war. Sah den Mann, der sich abseits hielt, wenig sprach, von einer Aura der Unnahbarkeit umgeben war, aber eines Abends doch anfing, von den Lagern zu sprechen, in denen er viele Jahre hatte verbringen müssen. Der Begriff Gulag war noch unbekannt. Ihr sogt Informationen ein, ihr wolltet wissen, wo ihr lebtet. Ich schrieb auf meinem Maschinchen:
manchmal denke ich, ich müsste mich nur auf die richtige weise anstrengen, dann würden die richtigen, die rettenden sätze zum vorschein kommen. dann wieder erfahre ich, dass alle anstrengung nichts nützt. was ichjetzt sehen müsste, will sich nicht zeigen. ich habe eine ahnung, dass es etwas ganz einfaches ist, und eben deshalb so gut verborgen.
Ich lese nach langer Zeit in dem Buch der Nonne. Daß man Schmerz nicht vermeiden soll. Daß man einfach dasitzen soll und sich selbst ruhig ansehen: So ist man eben. Man ist nicht auf der Welt, um sich zu bessern, aber um sich zu öffnen.
Aber wenn man das gerade versucht, dachte ich, wird man dafür bestraft. Darauf muß man gefaßt sein, würde die Nonne sagen. Auch das muß man aushalten.
Was mußte noch geschehen? Eines Abends, als ich nach Hause gehen wollte und mein Schlüsselbündchen bei der Security im vierten Stock abgab, saßen die Wachmänner vor dem kleinen Fernseher und drehten sich
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