Stadt der Engel
waren sie denn, diese Wochen, wenigen Monate, für die so schwer ein passender Name zu finden ist? Die sich langsam, fast unauffällig herangeschlichen hatten, auf verschiedenen Wegen, einer davon mündete in einem Pfarrgarten, nach einer Lesung in einer Kirche, ein paar Dutzend Leute standen herum, heftig diskutierend, es war Frühsommer, die Wahlen waren gefälscht, das war nun durch Zeugen in den Wahllokalen dokumentiert. Ich weiß noch, du sagtest: Das erlauben die sich nicht noch mal! Der Gefühlspegel stieg an, gemischte Gefühle, durchaus, bei dir neben Wut und Empörung und Erstaunen auch Sorge, denn wohin sollte das führen, wenn die Oberen immer noch und immer weiter nicht imstande und nicht willens waren, die Realität zu sehen, die Stimmung im Land wahrzunehmen und darauf zu reagieren.
DIALOG! war die erste Forderung der ersten Demonstranten. Die Machthaber aber setzten eine törichte Maßnahme auf die andere, verboten schließlich sogar die Moskauer Zeitschrift »Sputnik«, die das Neue Denken, das aus Gorbatschows Sowjetunion zu euch herüberschwappte, im eigenen Land unangefochten verbreitete. Ihr wart dabei, als in einem der kritischen Stücke, um die die Theater sich jetzt rissen, ein Schauspieler mitten in einer Szene einen ganzen Packen dieser Zeitschriftauf die Bühne warf, und wie das Publikum jubelnd, Beifall klatschend aufsprang. Noch wurden die Manifeste verschiedener Gruppen unter der Hand weitergereicht, noch fanden die unverblümt offenen Diskussionen in Wohnungen statt, aber das Tempo der Ereignisse beschleunigte sich unaufhaltsam.
Ich habe jetzt die Mappe gefunden, auf der 1989/90 steht und in der die Texte versammelt sind, die du in jenen zwei, drei Monaten geschrieben hattest. Das erstaunt mich nun doch. Sie waren dir damals abgefordert worden. Zuerst ein Appell an die Machthaber, endlich in einen öffentlichen Dialog mit den Kritikern einzutreten, den du zusammen mit Kolleginnen verfaßtest und dann in einer großen Versammlung vortrugst, in der er zu eurer fassungslosen Verwunderung mit sieben Gegenstimmen angenommen wurde, womit klar war: Der Wind hatte sich gedreht. Interviews, Berichte, Aufrufe über Funk und Fernsehen, die dir plötzlich offenstanden. Mir fällt auf, daß diese Texte getränkt waren von Hoffnungen, die man wenig später Illusionen nennen mußte, »Für unser Land« nanntet ihr einen dieser Appelle, der schon veraltet war, als er erschien. Aber ich weiß seitdem, daß eine Volksbewegung ohne diese Hoffnungen, ohne Illusionen nicht auskommt.
Das wichtigste aber, woran ich mich erinnern will, sind ja nicht diese Texte, ist überhaupt nichts, was geschrieben steht oder gesendet wurde, das wichtigste ist der Zustand, in dem ihr euch befandet. All die Leute, die in Massen durch die Straßen trieben, Wildfremde, die miteinander über Themen redeten, die gestern noch tabu waren, und die sagten und riefen und taten, was ihnen niemand zugetraut hätte, sie selbst sich auch nicht, klug und phantasievoll und diszipliniert, und es war durchaus kein Glücksrausch, in dem ihr euch befandet, es war oft eine sehr schmerzliche Erfahrung, als nämlich die so dringlich geforderte Untersuchungskommission wirklich tagte, längere Zeit im Roten Rathaus, später in einer Kirche, und als die Macht in Gestalt ihrer hohen und höchsten Funktionäre sichfür ihren Machtmißbrauch zu rechtfertigen hatte und in ihrer ganzen Erbärmlichkeit auftrat.
Ich wußte, sagte ich zu Peter Gutman, daß ich so etwas nicht noch einmal erleben würde. Wir waren alle in einem seelischen Ausnahmezustand.
Im television ein Film über Charlie Chaplin, stark herausgearbeitet seine Verfolgung durch den FBI-Chef Hoover. Am Ende ein Spruchband, wie viele Kilometer Akten dieser Hoover hinterlassen hat. Inzwischen wußte jedermann oder konnte es wissen, daß der spätere Präsident der Vereinigten Staaten, Ronald Reagan, seinerzeit Schauspieler und Präsident der Screen Actors Guild, einem Interessenverband, seine Kollegen als FBI-Informant »T-10« bespitzelt und verraten hatte. So what? Never mind. Wie sagte doch Mr. Hoover vor dem Untersuchungsausschuß zur Feststellung unamerikanischer Betätigung: »Der Kommunismus ist eine bösartige Lebensform, sie breitet sich epidemisch aus. Sie unter Quarantäne zu stellen wird unvermeidlich sein.« Bösartige Lebensformen, die ja noch nicht einmal die Schwelle zum Untermenschentum überwunden haben, rottet man ohne einen Anflug von schlechtem Gewissen aus.
Ich ging,
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