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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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unvermeidlichen schmerz nicht fürchten.

    Oder die Furcht überwinden. Ein heute junger Thomas Mann, dachte ich, müßte nicht davor zurückschrecken, seine homoerotischen Neigungen zu bekennen, nur scheinen sie auch nicht sein eigentlich »innerstes Geheimnis« gewesen zu sein. Nicht lieben können, nicht lieben dürfen ist der Fluch über dem Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, dessen Nähe zu sich selbst Thomas Mann nie geleugnet hat. Und rührt damit, dachte ich, an das innerste Geheimnis der liebesunfähigen Männer, die zu Untaten bereit sind, um ihre Leere auszufüllen.
    War es ein gutes Zeichen, daß Schreiben mir nicht möglich war? Ein Zeichen für Aufrichtigkeit?
    Wie der Reiter über den Bodensee fühle ich mich, sagte ich dem Freund in Zürich am Telefon.
    Sie haben überreagiert, sagte er.
    Was bin ich bloß damals für eine dumme Kuh gewesen.
    Na schön. Das wäre aber schon alles, was Sie heute dazu sagen können.
    Und wie erklären Sie mir, daß ich das vergessen konnte?
    Ziemlich einfach: Es wird Ihnen nicht so wichtig gewesen sein.
    Das könnte stimmen. Aber das kann ich doch jetzt nicht sagen.
    Sie können jetzt alles sagen.
    Sie meinen, da man mir sowieso nicht glaubt? Übrigens:

DAMALS HABE ICH NOCH NICHT GESCHRIEBEN
    DAMALS HABE ICH NOCH NICHT GESCHRIEBEN Der Satz war gültig, das wußte ich. Wollte für mich festhalten, daß danach keine Kontakte der falschen Art mehr möglich gewesen wären. Da gab es etwas wie Erleichterung, da öffneten sich die Klammern, wenn auch nur um Millimeter.
    Ich erinnere mich, wie ich es mir erlaubte, spät aufzustehen, früh noch im Bett zu lesen, das Gelenk würde sowieso wieder blockiert sein, keine Therapie konnte ein zerstörtes Gelenk wieder aufbauen, war das nicht ein guter Grund, mit unnötigen Handgriffen herumzutrödeln, das Maschinchen an der Schmalseite des Tisches als unzumutbare Mahnerin zu beschimpfen. Ich erinnere mich, wie ich mich dabei ertappte, mit mir selber zu reden, unwirsch. Wie ich eine klemmende Schublade anschrie: Komm doch schon, du Biest. Wie ich dann mitten in der Küche stand, das Geschirrtuch in der Hand, und laut sagte: Es muß ja nicht sein. Ja, was denn! Aber ich wußte es ganz genau. Es hatte ja keinen Sinn zu leugnen, daß dieser Text viel langsamer wuchs, als die Zeit verging, die hatte es eilig, die war immer da, breitete sich aus, vielleicht konnte ich sie dazu benutzen, das Gefühl der Vergeblichkeit abzuschütteln, das sich in mir festgekrallt hatte.
    Ich hielt das Alleinsein nicht aus, ich mußte unter Menschen, ich ging zur Third Street Promenade, begegnete einem der riesigen Müllwagen, auf dessen Seitenwand in großen Buchstaben zu lesen war: If you don’t start recycling your litter Santa Monica will look like the inside of this car, ich mußte an die Unmengen von Plastikbeuteln denken, in die noch der kleinste Einkauf verpackt wurde, und daß mein Stereotyp: No bag, please! und die Angewohnheit, mir meine Einkäufe in mitgebrachte Baumwollbeutel verstauen zu lassen, mein einziger Beitrag zur Abfallvermeidung war. Ich würde heute mal wieder ein Sandwich bei Natural Food essen, wo man die gewünschte Zusammenstellung des Belags auf einer Liste ankreuzte unddann, wenn das Sandwich fertig war, von den jungen Kellnern mit Vornamen aufgerufen wurde und wo draußen an der Wand eine Plakette angebracht war: In loving memory to Tony. Ich begann in einer auf dem Nachbartisch liegengebliebenen Zeitung zu lesen, es war die »Daily Breeze«, die ich noch nie vorher zu Gesicht bekommen hatte, ich las die Schlagzeile: OSCAR FOR TRUMBO EASES YEARS OF PAIN, und da war ein großes Farbfoto, eine Frau in den Siebzigern saß in roter Bluse und dezent karierter Hose auf einem grauen amerikanischen Sitzsofa, die unvermeidliche Stehlampe hinter sich, und sie hielt, auf ihr Knie gestützt, eine Goldstatuette in der rechten Hand, den Oscar also, und sie hatte die Augen niedergeschlagen hinter ihrer Brille und den Mund skeptisch verzogen, keine strahlend Glückliche hatte da in die Kamera geblickt, denn dieser Oscar galt eigentlich ihrem Mann, dem einst bekannten Szenaristen Dalton Trumbo, einem der berühmten »Hollywood Ten«, die sich geweigert hatten, während der McCarthy-Zeit angebliche Kommunisten unter ihren Kollegen zu denunzieren, so war er mit einer Reihe anderer Schriftsteller, Regisseure und Schauspieler auf die schwarze Liste gekommen, was einem Berufsverbot glich, verdiente mit Hilfe des schwarzen Marktes der

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