Stadt der Engel
deinen Kopf zu regieren. Versuchst es immer noch. Aber du beginnst, zu verstehen, worum es geht. Du lernst, nicht nur mit dem Kopf. Dein Widerstand läßt nach.
The overcoat of Dr. Freud, sagte ich.
Wie bitte?
Der Mantel, weißt du, der dich wärmt, aber auch verbirgt, und den man von innen nach außen wenden muß. Damit das Innere sichtbar wird.
Wenn du meinst, sagte Rachel. Mir genügt es, wenn mein Denken, meine Bewegungen, mein Fühlen so aufeinander abgestimmt sind, wie der liebe Gott das vorgesehen hat. Übrigens sagte sie noch, als dürfe sie mir das nicht verschweigen, daß sie sonst nur jüdische Patienten habe. Peter Gutman hatte mich an sie verwiesen. Ich fragte nichts weiter, sie sagte nichts weiter. Ich erinnere mich, das war einer der ersten hellen sonnigen Nachmittage nach dem großen Regen.
Mein kleiner roter GEO stand folgsam am Straßenrand vor Rachels Bungalow, aber ich konnte nicht hinein, weil ich die Schlüssel drinnen steckengelassen und die verriegelten Türen zugeschlagen hatte. Ich fand die Karte der Versicherung und stellte fest, daß die sich wirklich zuständig fühlte für mein Mißgeschick. Nach zwanzig Minuten kam ein kompetenter freundlicher Monteur, der es fertigbrachte, das Auto zu öffnen, ohne die Tür aufzubrechen, der für meinen unpassenden Scherz, daß er ja alle Chancen hätte, ein erfolgreicher Autodieb zu werden, nur ein müdes Lächeln übrig hatte und mein inständiges: Thank you so much! mit einem überzeugenden: You’re welcome! beantwortete. Ich lenkte mein wiedergewonnenes Auto auf den Wilshire Boulevard und fuhr der Sonne entgegen, die endlich wieder einmal in ihrer ganzen Pracht im Pazifik versank.
Alles war, wie es sein sollte, die drei Racoons hatten die Sintflut überlebt, die Lampe über dem Eingang des ms. victoria flackerte wie eh und je, Herr Enrico packte die Papiere auf seinem Schreibtisch zusammen, grüßte hochbeglückt und war genauso erfreut wie jedermann, daß die Sonne wieder über Kalifornien schien, ich schleppte die Taschen mit den Einkäufen von unterwegs zu meinem Apartment, trank meine Margarita und aß Käsebrote, während die Besatzung der Enterprise einmal mehr eine fremde Zivilisation rettete, wofür ich ihr aufrichtig dankbar war.
Unkontrollierte Gedanken liefen mir durch den Kopf, auf einmal kam das Wort »Schrecken« auf, wie hieß das eigentlich auf englisch, ich griff nach dem Langenscheidt: »shock«, ja natürlich, das war es wohl, obwohl es nicht ganz genau dem deutschen Schrecken entsprach. Zum ersten Mal in all diesen Wochen fiel mein Blick auf die Rückseite des Bandes, ich las die Anpreisung: »Hochaktuell mit Neuwörtern aus allen Lebensbereichen, z. B. Wendehals, Binnenmarkt.« Da wollte ich nun doch die englische Entsprechung sehen, ich suchte und fand: »Wendehals, m. pol. DDR contp (= contemptously, verächtlich): quick-change artist«, und war nun endgültig von der Unübersetzbarkeit der Wörter überzeugt. Denn der junge Kollege, der das Wort im Herbst 1989 zuerst gebrauchte – das war in der Erlöserkirche in Lichtenberg, bei der Veranstaltung der Schriftsteller: WIDER DEN SCHLAF DER VERNUNFT –, der tat ja nichts anderes, als ganz sachlich aus Brehms »Tierleben« die Beschreibung des Vogels namens Wendehals vorzulesen, und mehr mußte er auch nicht tun, um das Verhalten der übereifrigen Anpasser an die revolutionären Zustände lächerlich zu machen, und ich tat nichts anderes, sagte ich mir, als diese Definition am berühmten 4. November auf den Alexanderplatz zu tragen.
In der Erlöserkirche versammeltet ihr euch im Oktober 1989, noch billigte man euch keine großen Säle zu, verbot aber eure Veranstaltungen nicht mehr, und die Kirchen öffneten ihre Tore. »Wider den Schlaf der Vernunft«, besser hätte ein Motto kaum sein können, das spürten die Hunderte, die sich in der Kirche drängten und bis in die Nacht hinein den Dutzenden von Beiträgen der Schriftsteller, der Sänger lauschten. Erschütterte Freude – das war die Stimmung an jenem Abend. Die Sprache war frei, als wäre das selbstverständlich. Keine Vorsicht und Rücksicht fesselte die Worte, die jedem auf der Zunge lagen, eine Erfahrung, die ihr nie mehr missen wolltet. Dein ceterum censeo in jenen Tagen war die Forderung nach einer unabhängigen Untersuchungskommission, die ermitteln sollte,was in den Nächten, in denen die Republik ihr vierzigjähriges Bestehen feierte, mit den gewaltlosen Demonstranten geschehen war und wer die Befehle
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