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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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hereingelassen. Anderen habe ich das dann mit Erfolg geraten.
    Was war inzwischen passiert? Das wollten die Freunde doch wissen. Francesco meinte, es sei das passiert, was mit allen Illusionen passiere: Sie platzten. Lutz widersprach, das sei doch mehr gewesen als eine Illusion. Das sei doch ein neuer Gesellschaftsentwurf gewesen. Eine Alternative, die wir – er sagte: »wir« – doch dringend gebraucht hätten. Wer habe das deutlicher gesehen als sie, die Achtundsechziger? Und wer habe bitterer als sie erlebt, wie das »Wir« zerbröckelte? Kaum anders als bei euch, sagte er.
    DER ARGE WEG DER ERKENNTNIS, sagte ich. Davor der lange Weg der Kenntnis, des Zur-Kenntnis-Nehmens. Was wir nicht für möglich gehalten hätten. Was wir nicht glauben wollten. Die Hoffnung verkam, die Utopie zerbröckelte, ging in Verwesung über. Wir mußten lernen, ohne Alternative zu leben.
    Jetzt erst merkte ich, daß wir an unserem runden Tisch allein in dem großen Raum saßen. Die Musik hatte längst aufgehört zu spielen, die Bar hatte geschlossen, die letzten Paare warengegangen, buntes Papier, Plastikbecher, Strohhalme lagen auf dem Boden verstreut, die Dekoration hing schlaff von den wenigen noch brennenden Lampen herab. Es war weit nach Mitternacht. Es tat mir leid, daß ich so lange, daß ich überhaupt geredet hatte. Ich wurde das Gefühl nicht los, daß ich sie mit den Teilen abgespeist hatte, die im Erinnerungsspeicher obenauf lagen, aber bis zur wirklichen Wirklichkeit gar nicht vorgedrungen war.
    Wieso denn, fragte Peter Gutman, mit dem ich noch zum Ocean Park ging, noch eine Weile, an die Balustrade gelehnt, auf das nächtliche Meer schaute, den Mond jetzt ganz weit rechterhand knapp über den Santa-Monica-Bergen, dann zum ms. victoria hinüberlief, durch menschenleere Straßen. Wieso denn bloß.
    Ja, ja, sagte ich, es stimme ja alles. Aber darum gehe es ja eigentlich nicht. Worum es gehe? Immer noch um die Frage, wie ich das vergessen konnte. Warum hatte mich das keiner gefragt?

MAN KANN SICH AUCH AN FALSCHEN FRAGEN ABARBEITEN
    MAN KANN SICH AUCH AN FALSCHEN FRAGEN ABARBEITEN sagte Peter Gutman, und wahrscheinlich hatte er recht.
    Am nächsten Tag begann ich den noblen Brief eines Freundes zu beantworten ( wir wußten doch immer, daß es das eigene widersprüchliche Leben ist, aus dem das ANDERE wird ) , dazu brauchte ich eine Woche und viele Bogen Papier und einige schlafarme Nächte. Ich schrieb mich an einen Kern heran, den ich deutlich spürte, nicht benennen konnte, bis ich eines Nachts aus dem Schlaf aufschreckte und den letzten Satz einer längeren Rede, die jemand mir gehalten hatte, als Schrift vor mir sah: DER FREMDE IN DIR. Das überzeugte mich gleich, es traf zu. Oder, dachte ich, vielleicht auch das Fremde in mir, das ich gespürt hatte, wie man wohl im Körper eine Wucherung spürt, fremdes Gewebe. Der Arzt wird eine Probe entnehmen, umdie Zusammensetzung dieses Gewebes zu bestimmen, wobei es eigentlich nur darum geht: bösartig oder harmlos. Und um die Frage: schneiden oder nicht? Die Gefahr, daß das bösartige Gewebe den ganzen eigentlich gesunden Körper überwuchert und auffrißt.

    mir ist passiert, was mir nicht hätte passieren dürfen, sage ich mir, und das scheint ja richtig zu sein, aber ich weiss doch nicht, ob nicht zugleich ein gegenläufiger text in mir sich bewegt, der diese these bezweifelt. etwas wie neugier auf die nächsten schritte, die ich gehen werde. oder auf die nächsten gedanken, die ich denken werde. sogar in dem wort vergeblichkeit, das meine tage und nächte beherrscht, liegt eine art genugtuung, die ich immer empfinde, wenn ich für einen zustand die treffende bezeichnung gefunden habe.

    Rachel, die Feldenkrais-Lehrerin, zu deren winzigem Häuschen ich jetzt regelmäßig fuhr, um von ihr zu lernen, war überhaupt nicht für gewaltsame Aktionen. Sie ließ mich spüren, was kleine Bewegungsänderungen für Auswirkungen auf das ganze System haben können. Wie eingefressene Gewohnheiten die freie Bewegung blockieren. Wie die Lockerung der Blockade im Körper auch die Blockaden im Gehirn lockert, weil wir nämlich nicht aus Körper und Geist bestehen, weil diese Trennung, die das Christentum uns suggeriert hat, falsch und verhängnisvoll ist. So daß wir es ganz verlernt haben, sagte Rachel, uns als eine Einheit zu sehen: Daß Körper, Geist und Seele in jeder einzelnen Zelle verschmolzen sind. Du nämlich, sagte sie mir nach der dritten Stunde, hast immer versucht, alles über

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