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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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um mich abzulenken, die Second Street hinunter, traf vor dem Restaurant, bei dem es angeblich die besten Burgers gab, den Freund, der trotz Flugangst aus Europa herübergekommen war, um mich zu interviewen. Es war ausgemacht, daß er an diesem ersten Tag seines Aufenthalts ungestört bei seinen Vorbereitungen sein sollte, aber nun lud er mich ein, mich zu ihm zu setzen, das war der einzige Burger, den ich in Amerika aß, er wurde in einem Weidenkörbchen serviert und war wirklich sehr gut. Wir sprachen über den Flug und den Wein in der Business-Class der Lufthansa, über die Auswirkungen des Jetlag, über das metereologische und das politische Klima in Deutschland, und am Ende fragte er: Warum sind Sie bei der Fahne geblieben? Nein: Sagen Sie jetzt nichts.
    Wir verabschiedeten uns, ich ging noch an dem indischenLaden vorbei, um mir ein Spiel Tarotkarten zu kaufen, dazu eine ausführliche Anweisung, wie sie zu gebrauchen seien. Im Vorgarten des ms. victoria sah ich ein unglaubliches Bild: Mrs. Ascott, die Managerin, die nichts strenger verbot als das Mitbringen von Haustieren, saß an dem kleinen zierlichen weißen Tischchen rechterhand unter einer großblättrigen exotischen Pflanze, in eines ihrer flattrigen pastellfarbenen Gewänder gehüllt, und hatte eine Katze auf dem Schoß, die sie liebkoste. Es war das Kätzchen, das der große indianisch aussehende Mann, der inzwischen abgereist war, für sich adoptiert hatte. Isn’t it sweet, isn’t lovely? fragte sie und konnte mich zu meinem Erstaunen sogar mit meinem Namen anreden. Yes, Mrs. Ascott, it is. Zeichen und Wunder.
    Auf meinem Tisch das inkriminierte Aktenstück, das corpus delicti, das mir der Freund aus Deutschland mitgebracht hatte, dick verschnürt, VERTRAULICH! Dutzende Journalisten hatten es vor mir gesehen und sich darüber ausgelassen, wie das Gesetz es erlaubte. Ich konnte es noch nicht öffnen. Ich war müde. Ich legte mich auf das Bett und las in Thomas Manns Tagebüchern.
    Am 22. November 1949 hatte er geschrieben: Adenauer, der Kanzler, erklärt einem Franzosen, Deutschland wolle keine Armee. Militaristische Erinnerungen dürfen nicht erweckt werden. Dabei ist schon die ganze westdeutsche Presse, kaum daß die Frage der dismantlings zu D.’s Gunsten gelöst, zur Forderung der Aufrüstung gegen Rußland übergegangen. Dieses würde mit der Einführung der allgem. Wehrpflicht in Ost-Deutschland antworten. – Becher und Eisler haben eine neue deutsche National-Hymne hergestellt, gestimmt auf Einheit und Frieden, die kein Volksfeind stören soll. – Gefühl des Ephemeren, Überholten und Unsinnigen. Friedensmilitarismus. Aber was ist das Rechte, und was hat Zukunft?
    Gute Frage, dachte ich. Warum sind Sie bei der Fahne geblieben?
    Einmal, erinnerte ich mich, hat jemand dich ausdrücklichaufgefordert, »bei der Fahne« zu bleiben. Das muß in den siebziger Jahren gewesen sein. In Leipzig. Ihr saßet – eine Gruppe von Autoren – beim Frühstück in einem Hotel, in dem ihr nach einer Veranstaltung am Vortag übernachtet hattet. Da trat unerwartet ein älterer Mann auf dich zu, ehemaliger Generalstaatsanwalt, seines Amtes enthoben, als er sich weigerte, gegen Walter Janka und Wolfgang Harich Anklage zu erheben, »da er den notwendigen Kampf gegen Feinde der DDR vernachlässigt« hatte, jetzt Leiter des Amtes für Buch- und Verlagswesen, also oberster Zensor. Er legte dir die Hand auf die Schulter und sagte: Bleib du bloß bei der Fahne! – Bei welcher Fahne? fragtest du verblüfft. Und er: Bei der Fahne der Humanität.
    Ich schlief ein. Ich träumte einen Traum, der durch die Sperrzone der Schlaftabletten drang, das weiß ich genau, weil ich ihn zu Papier gebracht habe – ich würde mich hüten, einen so aufdringlichen, leicht durchschaubaren Traum zu erfinden. Ich träumte also, ich läge auf einer Art Brett, und mir würden im Schlaf mit einer Scheibensäge alle Gliedmaßen scheibchenweise abgesägt, abgetrennt, zuerst die Beine, dann die Arme, zum Schluß der Kopf, bis das Gehirn freilag und auch dieses zersägt wurde, und dazu rief eine männliche Stimme: So muß es sein. Dann ist da noch in Leuchtschrift mein Name, am Schluß verlischt auch der.
    Beim Erwachen dieses intensive Gefühl: Mir drohte Gefahr von mir.
    Früh lief ich ans Telefon und gab nach Berlin durch: Mein Körper entfernt sich von mir. In derselben Weise, aber wohl nicht in der gleichen Geschwindigkeit, wie die Zeit sich von mir entfernt. Vielleicht stimmt es ja, was Jurij

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