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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Leben mit diesem Hut zu vergleichen, aber hatte er denn damit unrecht? Nein. Recht hatte er, wie immer, und das riefen sie ihm nun zu, und sie hätten noch lange gerufen, wenn der Chor nicht machtvoll wieder eingesetzt hätte, diesmal geleitet von dem großen Baß eines der älteren Mitglieder.
    Währenddessen zogen einige der minister die Plastikfolie von dem langen schmalen Tisch, der zwischen der Kanzel und der ersten Reihe fast die ganze Breite der Kirche einnahm und der sich jetzt als Abendmahlstisch zu erkennen gab, vor dem schon eine Reihe von Gläubigen kniete, unter ihnen die Frau im grünen Kostüm, die vom Reverend selbst das Abendmahl empfangen wollte und in inniger Hingabe zu ihm aufblickte.
    Und nun, was ich nicht erwartet hatte, rückte die ganze Kirche zum Abendmahl vor, Mann für Mann, Frau für Frau, Reihe für Reihe, von hinten beginnend, und die minister regelten geschickt und freundlich den Zugang zum Tisch des Herrn,legten die Handtaschen der Frauen auf eine der Bänke, unterstützten Behinderte, eine große Bewegung war in der Kirche, in aller Ruhe, unter den langgezogenen Klängen der Musik, ich sah Weiße niederknien, darunter einen der Direktoren unseres CENTER, ich sah Annie, die Jüdin, das christliche Abendmahl nehmen. Jetzt waren wir dran. Ausschließen konnte ich mich nicht, Therese schob mich, ich kniete auf dem Bänkchen vor dem Tisch, winzige Oblaten lagen in Tellerchen, und in einer sinnreich angeordneten Lochreihe steckten Plastikfingerhütchen mit Wein. Ich aß das Brot, ich trank den Wein. God bless you, sagte der minister, der vor mir stand.
    Das war seit fünfzig Jahren das erste Mal, sagte ich zu Therese, nämlich seit meiner Konfirmation, und übrigens bin ich gar nicht mehr Mitglied einer Kirche, Therese sagte, sie sei in einer Klosterschule erzogen worden und habe mit fünfzehn fluchtartig die Kirche verlassen, aber hier sei das etwas anderes. Das sagten alle unsere Freunde, die sich vor der Kirche in einem kleinen weißen Grüppchen versammelten, ein wenig verlegen, kaum imstande, die Bewegung zu verbergen, die uns eben ergriffen hatte, nach allen Seiten winkend, wo man sich mit Kopfnicken und Lächeln von uns verabschiedete.
    Es war mörderisch heiß. Wir verteilten uns auf die Autos, ich kam in den Fond zu Therese, neben ihr saß Margery, die Paartherapeutin, die sagte, wenn ihre Patienten einmal in der Woche ein solches Erlebnis von Hingabe und Selbstentäußerung haben könnten, bräuchten sie weiter keine Therapie. Ich war müde, schloß die Augen, glitt in Erinnerungen ab, an den freudlosen säuerlichen Konfirmandenunterricht in dem kahlen häßlichen Raum, an die heuchlerisch verzogenen Lippen des Pfarrers, wenn er den Namen Gottes aussprach, an meine erfolglose Abwehr der Konfirmation, an unser Bestreben, uns über das Abendmahl lustig zu machen.
    Nicht der Hauch eines Flügelschlags wurde uns damals zuteil, Angelina, während ich heute ein leises beständiges Fächeln verspürte. Mit wem sprach ich da? Angelina, der Engel war es,die schwarze Frau aus dem ms. victoria , die saß ganz selbstverständlich neben mir auf dem Rücksitz von Thereses Auto, entspannt, falls das ein passender Ausdruck für einen Engel sein sollte, lächelnd. Einmal müsse man sich doch schließlich erholen, oder? Ich wollte ihr keine direkten Fragen zumuten, nach der Vorstellung, die ich mir als Kind von meinem Schutzengel gemacht hatte, mußte der sowieso Gedanken lesen können. Nicht immer, sagte Angelina, oft sei sie einfach zu müde dazu, von der vielen Arbeit. Aber übrigens weißt du es doch selbst. Was, fragte ich, was soll ich wissen. Ich konnte es nicht lassen, den Engel zu drängen, der sagte, ich wisse doch, daß ich immer, wenn ich erst mal eine Frage stellen könnte, schon dicht vor der Antwort stünde, warum also wollte ich die Antwort aus ihr herausziehen, sie sei nur für Notfälle da, wo käme sie sonst hin. Verlangte sie etwa, daß ich mich meiner Frage schämen sollte, spürte sie wirklich nicht, daß ich ein Notfall war und ein kleines bißchen Sicherheit brauchte. Worüber denn, wollte sie wissen.

OB SIE, DER ENGEL, EIN TEIL MEINER GENESUNG SEI
    OB SIE, DER ENGEL, EIN TEIL MEINER GENESUNG SEI Und: Ob ich auch einmal wieder erfahren würde, was Freude ist, sagte ich zu meinem Erstaunen, ich hätte Angst, daß ich sogar die Erinnerung daran verlieren könnte, Angelina!
    Der Engel antwortete nicht, er war verschwunden, die Mittagshitze schlug mich wie eine Keule,

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