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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sehen könne. Das sei sehr lehrreich.
    Mich überfiel in jener Nacht eine unbeschreibliche Müdigkeit. Merkwürdigerweise hatte Emmas Brief mich getröstet. Ich schlief sofort ein und schlief bis weit in den nächsten Tag hinein. Ich erinnerte mich deutlich an einen Traum: Ein rasender Fall durch Schichten von immer dichterer Konsistenz, zuerst Luft, dann Wasser, Morast, Schutt, Geröll, ich drohte steckenzubleiben, drohte zu ersticken. Plötzlich unter mir Gestein, auf dem ich Halt fand, und die Stimme: Du stehst auf festem Grund. Der Satz ging mir lange nach. Ich verstand ihn.

    Am Sonntag wollte ich mit Therese und Jane und den anderen von der Gang in die Kirche gehen, in die First African Methodist Episcopal Church. In der Gegend, in der die Kirche lag, schien man den Feiertag zu heiligen, die Straßen waren menschenleer. Unsere Gang hatte sich verabredet, wir waren zu früh da, umkreisten den Häuserblock. Therese kannte sich auch hier aus, sie zeigte uns die Häuser, welche die Gemeinde gekauft und für soziale Zwecke eingerichtet hatte, Schule, Kindergarten, Altenheim, die Gemeinde schien nicht ganz arm zu sein, die Nachbarschaft atmete bescheidenen Wohlstand und Wohlanständigkeit, die Vorgärten waren gut gehalten, nicht üppig, aber säuberlich bepflanzt, fast alle Häuser, aus Holz wie überall in der Stadt, hatten in den letzten Jahren einen neuen Anstrich bekommen, bonbonrosa, himmelblau, türkis, die Fensterrahmen blendend weiß abgesetzt, eine Hollywoodschaukelhinterm Haus, in der Einfahrt Wagen der unteren Mittelklasse, die der schwarze Hausherr am Sonntagvormittag wusch, während seine Kinder, entzückend gekleidet, an der Hand der mit einem großen Hut und einer üppigen Spitzenbluse angetanen Mutter aus dem Haus kamen, sich anmutig in Richtung Kirche bewegten.
    Sie haben es geschafft, sagte Therese, aber ganz sicher sind sie sich dessen noch nicht, sie sind Bankangestellte und Versicherungsagenten und Verkaufstellenleiter und Reisende und Beschäftigte bei der Kommune, sie übertreiben im Eifer die Nachahmung der Weißen ein wenig, und sie denken noch, sie könnten es fertigbringen, erfolgreich zu sein wie die Weißen und außerdem fromm, ich meine: wirklich fromm im Sinne des Evangeliums, du wirst ja sehen.
    Wir waren angemeldet, wir wurden in das office geführt, nach und nach kamen die minister herein, schwarze Frauen und Männer in weißen Gewändern, über die lange verschiedenfarbige Seidenschals gelegt waren, sie begrüßten uns, umarmten uns, boten uns zu trinken an, erkundigten sich nach unserer Herkunft, nach unseren Berufen, der Raum war auf einmal voller Menschen, eine lockere, heitere Atmosphäre, schließlich kam der Reverend, er war der Älteste, sein Gesicht erinnerte mich an eine dunkle verschrumpelte Frucht, es war das Gesicht eines alten gütigen Clowns, er strahlte, auch er umarmte uns, ich spürte den Druck seiner kräftigen Hände auf meinen Oberarmen, ich dachte, es gibt mehrere Arten von Sicherheit, diejenige, die dieser Mann ausstrahlt, ist wohl am schwierigsten zu erwerben.
    Der Reverend bat eine der minister, eine stattliche Frau mittleren Alters, über deren weißem Gewand ein violetter Schal hing, uns zu unseren Plätzen in der Kirche zu führen, wir waren sieben, außer mir und Therese Jane, Margery, Manfred, Toby und sogar Susan, ich war froh, daß wir nicht in der ersten, sondern in der fünften Reihe saßen, wir schienen in dieser mindestens vierhundertköpfigen Menge, die inzwischen die Kirche füllte, die einzigen Weißen zu sein, es war mir nichtunbehaglich, nur daß ich mir dessen in jeder Sekunde bewußt war, viele Blicke auf mir spürte, beobachtend, prüfend, aber worin bestand die Prüfung, sollte ich mich benehmen wie eine Weiße, aber wie benahm die sich in dieser Lage.
    Da erzitterte der Boden unter unseren Füßen, rythmisch, dann hörte ich das Klatschen, dann den Gesang. Ich drehte mich um mit den anderen, der Chor zog ein, alle standen auf, auch wir, alle begannen im Takt des Liedes zu klatschen, ich zögerte, hatte das Im-Takt-Klatschen immer verweigert, dann klatschte auch ich, es war nicht peinlich. Die fünfzig, sechzig Männer des Chors jubilierten, anders konnte man es nicht nennen, sie wußten sich vor Freude kaum zu halten, hielten sich aber doch an das Lied, den Text, die Melodie, an den Rhythmus des Klatschens und an den schleppenden, verzögernden Doppelschritt, mit dem sie durch den Mittelgang hereinzogen, sich vor der Kanzel in zwei

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