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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dir umgesprungen sind, weil du eine Frau bist?
    Das hatte jemand anderes zuerst sagen müssen. Beweisen könnte ich das nur, wenn ich einmal die Wörter zusammenstellen würde, die sie gegen mich verwenden, und sie mit den Wörtern vergliche, die sie gegen Männer verwenden.
    Hallo, sagte Jane, jemand zu Hause?
    Sie war eine kraftvolle Frau mit starkem blonden Haar, das in Schlangenwindungen herabhing, sie hatte ein großflächiges, schönes Gesicht und zupackende blaue Augen, starke Hände, eine kräftige Figur.
    Toby, der dicht neben Therese mir gegenüber saß, dessen schlanken Händen man ansah, daß sie fähig waren, mit winzigen Holzteilen zu arbeiten, aus denen er die Modelle herstellte für die Bauten, die er errichten wollte und die niemand haben wollte; Toby, der schwer fertig wurde mit seinem Ungenügen an sich selbst, den es nach Mexiko zog, fragte sich, ob uns die Geschichte nicht dadurch, daß doch immer die materiellen Werte über die geistigen siegten, eine Botschaft übermitteln wollte.
    Sie bezweifle, daß das stimme, sagte Sanna. Ob wir uns nicht einfach auf die gröbste Anschauung eingeschworen hätten, nur noch die Vorherrschaft des Materiellen sehen könnten und nicht mehr imstande seien, das ausschlaggebende Wirken geistiger Kräfte wahrzunehmen.
    So glaube sie also nicht, sagte Susan, daß der Mensch genetisch darauf programmiert sei, materiellen Werten den Vorzug zu geben? Aber wie erkläre sie sich dann diesen unaufhaltsamen Run der Menschenmassen auf Autos, Häuser, Waschmaschinen, auf Geld, Geld, Geld?
    Einige von uns, die Susan näher kannten, verbargen ihre Belustigung darüber, daß ausgerechnet sie, die Millionärin, sich Sorgen um den Materialismus der Menschheit machte. Wir taten ihr unrecht, sie war sich ihrer zwiespältigen Lage bewußt. Wir hätten gut reden, sagte sie, ja, auch sie, sie zuallererst, wir gehörten doch zu dem Bruchteil der Menschheit, der im Überfluß lebe. Wir hätten ja das Auto, nach dem die anderen sichsehnten, und wie kämen wir dazu, über ihre Bedürfnisse zu urteilen.
    Margery meinte, alles komme doch darauf an, was wir für normal hielten. Wie oft sehe sie in ihrer Praxis ein Ehepaar, das sich ein ganzes Leben lang nach dem Gesetz gerichtet habe, der Mann verdient das Geld, die Frau gibt es aus, kriegt die Kinder, organisiert Partys und beaufsichtigt die Dienstboten, nichts normaler als das. Bis die Frau, nah an den Sechzigern, auf einmal Anfälle kriegt und anfängt, ihren Mann und jeden anderen Menschen in ihrer Umgebung in wüster obszöner Weise zu beschimpfen, Ausbrüche von Wahnsinn, an die sie sich später nicht mehr erinnere, aber dann säßen die beiden ratlos vor ihr, und die Frau gehe in Gegenwart der Therapeutin auf ihren Mann los, der neben ihr sitze wie ein Lamm und, nichts verstehend, alles über sich ergehen lasse. Es gebe eben Menschen, bei denen das unterdrückte und abgeschnürte Leben irgendwann aufbreche und die Person ein Entsetzen über die Normalität erfasse, in der sie bis jetzt gelebt habe.
    Wir saßen lange in dem schattigen Innenhof, auf dringenden Wunsch von Susan verabredeten wir, daß wir beim nächsten Vollmond in die Wüste fahren und den Mondaufgang bewundern würden. Irgendwann sagte Lowis, er und Sanna würden bald den Südwesten bereisen und dabei auch zu den Hopi-Indianern kommen, wo er einen alten Häuptling kenne, und ich hörte mich fragen: Nehmt ihr mich mit? und sie sagten: Yes. Sure.
    Das war also abgemacht. Wir trennten uns. Ich fuhr bei Lowis und Sanna mit, die Hitze hatte sich kaum abgemildert, aber ich fühlte mich wundersam erholt. In die kühle Halle des ms. victoria eintreten war wie das Einlaufen in den Heimathafen. Bei Herrn Enrico lagen zwei Postsachen für mich. Das eine war eine Postkarte, deren Absender ein Diplom-Jurist aus Leipzig war. Er schrieb mir: »Im Gegensatz zu Ihnen habe ich die DDR immer gehaßt und war dadurch gegen vieles gefeit. Sie waren jedoch ein bedeutender Teil der DDR, und ich hasse Sie!«
    Das zweite war eine Notiz von Peter Gutman, er schrieb, er wolle mir nur ein Zitat zukommen lassen, das er bei einem seiner Lieblingsessayisten gerade gefunden habe. Das Zitat lautete: Ich leugne die Schrecken des Gulag nicht und mich ekelt vor allen, die ihre stalinistische Vergangenheit leugnen, aber der Kommunismus war eine ungeheure Hoffnung. Es gibt im Marxismus – das ist sehr jüdisch – eine verrückte Überschätzung des Menschen. Er bringt uns dazu zu glauben, wir seien Wesen,

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