Stadt der Engel
ohne rangieren zu müssen, stellte ich mein Autochen auf seinen Platz zwischen dem holzgetäfelten Oldtimer von Francesco und dem eleganten schwarzen Coupévon Pintus und Ria. Mrs. Ascott hatte ihren weißen Riesenwagen wie immer am Eingang so abgestellt, daß er die halbe Zufahrt versperrte, als Managerin vom ms. victoria nahm sie sich das Recht dazu, wir begegneten uns vor dem Eingang und grüßten uns überaus freundlich. Seit wann eigentlich hatte ich dieses Gefühl, nach Hause zu kommen, wenn ich die Tür zu meinem Apartment aufschloß.
Sicher habe ich mir an jenem Abend etwas zu essen gemacht, wahrscheinlich vor dem Fernseher gesessen, während ich aß, und erst dann meinen indischen Beutel, den ich zu Ruth mitgenommen hatte, geöffnet. Wahrscheinlich war es spätabends. Den großen weißen Umschlag, auf dem mein Name stand, sehe ich vor mir. Niemand anderes als Ruth konnte ihn mir in den Beutel gesteckt haben. Der Umschlag enthielt ein Blatt mit Ruths Handschrift und einen ungeöffneten Luftpostbrief, adressiert an Lily. Dieser Brief, schrieb Ruth mir, sei aus Deutschland angekommen, als ihre Freundin Lily im Sterben lag. Sie habe ihn ungeöffnet bei den übrigen Papieren gefunden, die Lily ihr hinterlassen habe. Sie habe ihn nicht öffnen wollen. Nun wolle sie ihn mir übergeben, weil sie glaube, damit im Sinn von Lily und auch der Briefschreiberin zu handeln.
Die Absenderin des Briefes war meine Freundin Emma.
Er war in einer westdeutschen Stadt abgestempelt, hatte westdeutsche Briefmarken. Ich hielt ihn lange in der Hand, drehte und wendete ihn, bis ich ihn schließlich öffnete. Fast mußte sich dieser Brief mit der Nachricht von Lilys Tod gekreuzt haben. Er war in Emmas ausladender Altfrauenschrift auf dem marmorierten Briefpapier geschrieben, das ich von ihr kannte.
»Liebe Lily, dies wird ein langer Brief. Ich habe die Gelegenheit, ihn westdeutschen Freunden mitzugeben, die werden ihn an der Postzensur vorbei befördern.
Ich habe Krebs. Das weiß außer mir noch niemand. Du wirst mir glauben, daß mich die Einsicht, daß meine Lebenszeitbegrenzt ist, nicht sehr schockiert hat. Das Lebensgefühl aus den braunen Jahren, daß wir alle Tote auf Urlaub sind, hat sich tief eingefressen. All die Jahre danach habe ich wie hinter einem Vorhang gelebt. Ich war immer sehr beschäftigt, und ich wollte mich nicht lähmen lassen. Als Stalin starb, saß ich hier bei uns ›unter falscher Anschuldigung‹ im Gefängnis. Als ein Wärter mir die Nachricht zuflüsterte, habe ich geweint. Dazu mußt Du nichts sagen, ich habe mir selbst schon alles dazu gesagt.
Du wirst Dich erinnern: Einmal, kurz nach der Machtübernahme, haben wir in einem Riesensaal eine der Reden des ›Führers‹ und den Begeisterungstaumel der Masse miterlebt. Im Rausgehen sagtest du: Jetzt haben sie ihren Messias. Wir müssen so schnell wie möglich hier weg. Du warst hellsichtig und entschlossen.
Ich blieb, ich hatte einen Parteiauftrag. Ein Himmelfahrtskommando, von heute aus gesehen. Wir waren eine kleine Gruppe, nach einem Jahr faßte man uns. Nur dadurch, daß keiner von uns einen Namen verriet, kamen wir mit dem Leben davon. Drei Jahre Zuchthaus, danach unter strenger Beobachtung. Ich konnte nichts mehr machen. Fast nichts. Ich frage mich, was wir getan hätten, wenn wir schon in den dreißiger Jahren alles gewußt hätten, alles über die Säuberungen in der Sowjetunion, alles über den GULAG. Wir wären verzweifelt und handlungsunfähig gewesen. In unseren Alpträumen stellten wir uns ein faschistisches Europa vor. Stalin, sagten wir uns, hat das verhindert.
Wir sind gescheitert. Das Land, in dem ich lebe und auf das ich anfangs noch einige Hoffnung gesetzt hatte, verknöchert und versteinert von Jahr zu Jahr mehr, der Moment ist abzusehen, an dem es als bewegungslose Leiche am Weg liegen wird, freigegeben zur Ausplünderung. Was dann? Eine lange Verwesungsphase?
Sehe ich vielleicht eine Lösung nicht, die für Dich, für Euch, naheliegt? Ach Lily, schreib mir bald, die gute Emma istdoch recht ratlos auf ihre alten Tage. Sei gegrüßt, meine Liebe. Wie sagten wir früher? Adieu.«
Emma hat lange vor mir verborgen, daß sie diesen Krebs hatte. Sie starb dann ziemlich schnell. Sie sprach nicht über den Tod. Nur einmal sagte sie, ihr sei zumute, als sei sie auf einen anderen, kleinen Planeten versetzt worden, der sich ziemlich schnell von der Erde wegbewege und von dem aus sie zum ersten Mal unsere Erde von außen und als Ganzes
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