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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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die zur sozialen Gerechtigkeit fähig wären. Ein schrecklicher Irrtum, den zig Millionen Menschen mit ihrem Tod bezahlt haben, aber eine generöse Idee und ein großes Kompliment an die Menschheit.
    Ich legte mich auf das Bett, um etwas auszuruhen, und schlief zwölf Stunden lang.

    Wie weiter? Die Gefahr kommt näher, höre ich, während ich dies schreibe, auf allen Sendern. Der Politiker sagt im Fernsehen, die Frage sei nicht, ob, sondern wann ein Terrorakt in Deutschland gelingen werde, den man diesmal noch habe verhindern können. Die Ängste stiegen in der Bevölkerung, dies wolle man auf keinen Fall erreichen, es sei die falsche Reaktion. Die Zeit, denke ich, hat ein Scharnier, um das herum sie sich bewegt, das Datum kann man benennen, es ist der 11. September 2001, danach war die Zeit anders als davor. Wie anders. Aus anderem Stoff, ein Material, durchsetzt mit dunklen Einschlüssen, die, wenn sie freigesetzt werden, Tod bedeuten. Darauf waren wir nicht gefaßt und merken erst allmählich und widerstrebend, daß wir es zu spät bemerkt haben und »es« nicht mehr »besiegen« können. »Es« ist dabei, unsere Wurzeln zu zerstören.
    Die Zeit verging, ich hatte angefangen, die Tage zu zählen, manchmal, nachts, ließ ich ein Wort wie Heimweh zu. Jüngst hatte es tatsächlich noch ein Erdbeben gegeben, das Epizentrum war in Südkalifornien gewesen, stundenlang erschien auf dem Fernsehschirm immer wieder das Meßgerät, dessen Zeiger über das erlaubte Maß hinausschoß, und dann die gelassene,kompetente Erdbebenforscherin, die diesen Ausschlag kommentieren mußte, damit in der Bevölkerung keine Panik ausbrach. Und ich erinnerte mich an die Dozentin, eine Deutsche, die bei einem Universitätsdinner neben mir gesessen und erzählt hatte, daß ihr Mann, ein Erdbebenforscher, nicht oft genug predigen konnte, nicht ob, sondern wann es das große Erdbeben in Los Angeles geben würde, sei die Frage: THE BIG ONE, von dem alle wußten und an das keiner glauben wollte, weil keiner die immer gefährlicher auseinanderdriftenden Erdschollen ernst nahm, den Andreasgraben, auf dem diese Stadt nun einmal erbaut worden war. Sie jedenfalls hätten zu Hause immer einige Gallonen frischen Wassers parat und einen Wochenvorrat unverderblicher Lebensmittel. Um die würde es übrigens im Ernstfall Mord und Totschlag geben, daher versteckten sie sie. Die leichtfertigen Amerikaner wollten sich einfach nicht klarmachen, was allein der Totalausfall des Computernetzes bedeuten würde. Was zum Beispiel passieren würde, wenn das ganze Finanzsystem zusammenbräche, das wagte ihr Mann sich gar nicht auszumalen. Lieber heute als morgen würden sie von diesem hochgefährlichen Ort wegziehen, wäre da nicht der Beruf ihres Mannes, der ihn hier festhalte.
    Die Straße, an den Ozean geschmiegt. Das Licht, das überirdische Licht. Stoßstange an Stoßstange die Autos, mein kleiner roter GEO mitten unter ihnen, einer der seltenen Nachmittage, an denen ich mich in den Verkehr wagte, um an den Strand zu fahren, obwohl ich Kopfschmerzen hatte. Meine Gedanken hatten sich an dem Erdbeben festgemacht.
    Ist ja nochmal gutgegangen. Wer sprach da mit mir. Angelina. Können Engel also wirklich Gedanken lesen? Übrigens solle ich jetzt lieber nach links abbiegen, es komme so bald kein Parkplatz mehr. Weiß ich doch, hätte ich aber jetzt nicht dran gedacht. Das machten die Kopfschmerzen.
    Der Parkplatz war, wie alle Parkplätze, voll. Angelina dirigierte mich in die einzige Lücke. Sie ließ mich das Fleckchen Strand entdecken, auf dem ich meinen Klappstuhl mitSonnenschutz aufstellen und das Meer sehen konnte, nicht nur halbnackte Menschen. Ich ließ Angelina wissen, daß ich meine Ruhe wollte. Übrigens wurden die Kopfschmerzen stärker. Als ich mich satt gesehen hatte und das Sonnengefunkel auf dem Wasser den Augen weh tat, nahm ich mir das Buch vor, das ich lange vernachlässigt hatte, »The Wisdom of no Escape« von der Nonne Perma.
    Übrigens habe ich nicht vor, mich für das Auftreten des Engels Angelina zu rechtfertigen oder irgendwelche Erklärungen abzugeben. Nach Umfragen glauben sechsundachtzig Prozent der Amerikaner an Wunder und natürlich auch an überirdische Wesen, zum Beispiel an Engel. Oder daran, daß eine eigentlich bisher unauffällige Madonnenfigur im Haus eines ebenfalls unauffälligen Priesters plötzlich anfangen kann, Tränen zu vergießen. Und natürlich glaubte und glaube ich, eine unerschütterliche Anhängerin der Aufklärung,

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