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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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mir heute nur soviel: Ich bin wohlauf, in den Grenzen, die die Umstände und das Alter vorschreiben, und meine Lebensverhältnisse haben sich nicht verändert: Die äußeren nicht, die inneren nicht. Du wirst wissen, was ich damit sagen will, und wirst wie früher mit Deinem spöttischen Grinsen den Kopf schütteln. Ja, meine Liebe, der Mensch ändert sichnicht, da wirst Du mir wohl widersprechen. Dann werde ich Dir Einzelheiten erzählen, und Du mir auch! Ich umarme Dich. L.«

    Ich wußte ja, daß Emma im Herbst 1945, als wir uns noch nicht kannten, zwar in Berlin wohnte, sie hat niemals in einer anderen Stadt gewohnt als in Berlin, aber nicht mehr in dem Haus, in dem der junge amerikanische Korrespondent sie gesucht haben mochte, ein Hinterhaus in Neukölln, das war durch Bomben zerstört worden, und vielleicht war dies die Rettung für seine langjährige Bewohnerin gewesen, die von der Gestapo überwacht wurde und kurz vor einer neuerlichen Verhaftung stand. So konnte sie sich in der Bombennacht aus der Ruine herausarbeiten und im Trümmerdschungel der beinahe völlig zerstörten Stadt untertauchen. Darüber sprach Emma fast nie. Wie oft saßen wir in ihrem labyrinthischen Häuschen am östlichen Stadtrand, das in den Jahren durch An- und Ausbauten aus jener Laube herausgewuchert war, in die Emma sich bei Kriegsende geflüchtet hatte. Ich nahm den letzten Brief aus seinem Umschlag. Er war im Mai 1979 nicht von L., sondern von einer Fremden geschrieben und enthielt die knappe Mitteilung, daß L. an Herzversagen gestorben sei. Unterzeichnet war er mit einem Vornamen: »Ruth«.
    Ich fragte mich, was Emma mir wohl heute sagen würde. Bleib auf dem Teppich, Mädchen? Allein der Gedanke daran besserte meine Stimmung.

    Doktor Kim, zu dem man auf Strümpfen ging und in dessen Vorraum man in Bambussesseln saß, fragte andere Fragen als andere Ärzte. Zwar interessierte ihn der Körperschmerz, der mich zu ihm führte, durchaus und gründlich. Hüftgelenke, nun ja, das schien ihn nicht zu beunruhigen. Dann hob er seinen schmalen asiatischen Kopf von dem Blatt, das ich für ihn hatte ausfüllen müssen: You are a writer. What have you got to do to become a good writer. Da fühlte ich mich wieder in einerPrüfung, wollte gut abschneiden, versuchte mich einzufühlen in das, was der Lehrer hören wollte, und sagte, ich bemühte mich, mich so genau wie möglich kennenzulernen und das auszudrücken. Doktor Kim schien es zufrieden. Ich solle regelmäßig meditieren, riet er mir noch, dann würde ich mich gut kennenlernen, und ich solle nicht erschrecken vor dem, was ich da sehen würde, und mich nicht scheuen, das auszudrücken. Dann würde ich der beste Schriftsteller der Welt werden können.
    Da konnte ich ehrlichen Herzens sagen, das sei nicht mein Ziel, was ihn zu erstaunen schien. Unbewegten Gesichts spickte er meinen Körper mit seinen feinen Metallnadeln.
    Aber es war nicht mein Ziel, konnte ich mir bekräftigen, als ich wieder im Bus saß, der den ganzen langen Wilshire Boulevard unter seine Räder nahm und die ärmeren Leute aufsammelte, die autolosen Leute, die es auch noch zu geben schien in dieser Autostadt. Gehörte ich zu ihnen? Müßige Frage, jederzeit konnte ich mir ein nicht teures gebrauchtes Auto zulegen, wenn ich meine Hemmung vor dem Verkehr in dieser mir undurchschaubaren Stadt verloren haben würde. Ich versuchte, mir die wechselnden Passagiere einzuprägen, die schwarze Mutter mit ihrem schleifchengeschmückten schwarzen Kind, den verwahrlosten Obdachlosen, der an der Flasche hing und wütend vor sich hinbrabbelte, eine Gruppe von weißen, schwarzen und braunen Schülern, die sich vor den Mitteltüren versammelten und so albern waren wie Schüler überall auf der Welt, eine Frau, deren Körper, eine Fleischmasse, die beiden Plätze einer Sitzreihe voll ausfüllte. Ich beobachtete sie, wie ich es mir angewöhnt hatte. An jeder Station fiel mir auf, wie viele Leute schlecht laufen und nur mit Mühe ein- oder aussteigen konnten, wie viele an Stöcken oder Krücken gingen, wie viele einen verbundenen Arm oder ein abgeklebtes Auge hatten, und als der Bus endlich Fourth Street hielt, gab ich mir Mühe, so leichtfüßig wie möglich auszusteigen, als brauchte ich den Haltegriff eigentlich nicht, obwohl der Erfolg, den Doktor Kimanscheinend schon von seinen ersten fünf Nadeln erwartet hatte, sich nicht einstellen wollte. Doch hatte ich davon gehört, daß eine Verschlimmerung der Symptome auf die Wirkung der

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