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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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meinen Augen abrollen, bis ich auf einen Namen und auf einen Titel stieß, die für meine Recherchen nützlich sein konnten: »Weibliche Emigration in den USA«. Ich drückte die Bestelltaste und erfuhr, daß das Buch ausgeliehen war, und zwar erst seit wenigen Tagen. Ich gab meine Vorbestellung auf. Wieder eine Spur, die nicht weiterführte. Die Frage, warum ich eigentlich hier war, schien dringlicher zu werden.
    Ich gab mir zu, daß ich einen Stich von Eifersucht empfunden hatte, als mir in dem alten Vulkanfiberkoffer, dem Nachlaß meiner Freundin Emma, dieses Briefbündel in die Hände fiel, in einem großen braunen Umschlag, auf dem in Emmas Schrift in einer Ecke mein Name stand und in der Mitte mit dickem schwarzen Stift der große Buchstabe »L« – derselbe Buchstabe, mit dem die Schreiberin ihre Briefe unterzeichnet hatte. Emma hatte all die Jahre über, in denen ich glaubte, ihre engste Vertraute zu sein, mit dieser L. korrespondiert, ohne mir etwas davon zu sagen. Sei nicht kindisch, mußte ich mir zureden, und nimm das nicht als Vertrauensbruch. War Emma etwa verpflichtet, dir alles und jedes zu sagen. Die Bekanntschaft Emmas mit L. hatte weit in ihre Vergangenheit zurückgereicht, indie zwanziger Jahre. Als ich geboren wurde, war Emma schon in der Kommunistischen Partei und vermutlich befreundet mit »L«. Daß sie ausdrücklich mir diese Briefschaften hinterließ, war mir eine Art Trost und ein Beweis ihres ungetrübten Vertrauens, ich empfand aber auch eine Aufforderung, mich um den Bereich ihres Lebens zu kümmern, den sie vor mir verborgen hatte. Hätte sie nicht sonst diese Briefe vernichtet, ehe sie starb?
    Außergewöhnlich müde, ging ich am hellerlichten Mittag anstatt in mein Büro ins ms. victoria , legte mich hin und schlief sofort ein. Ich träumte von einem Traumbuch, das ich einst hatte anlegen wollen, ein Plan, den ich wie so viele andere Pläne nicht ausgeführt hatte. Nun aber, im Traum, hielt ich dieses Traumbuch in Händen, ein liniertes Schulheft im DIN-A4-Format, zwischen dessen Seiten ich alte Geldscheine gelegt hatte, ungültig seit dem Untergang des Staates, in dem sie gültig gewesen waren. Zu meiner Verwunderung träumte ich weiter von Geld. Ein Freund, der schon tot war, ruft mich an: Er brauche Westgeld für seine Mutter. Wir müssen uns also noch in DDR-Zeiten befinden, wie man jetzt sagt, das denke ich im Traum, sage dem toten Freund: Neulich habe ich sogar jemanden von »Ostzeiten« sprechen hören. Aber woher soll ich jetzt so schnell Westgeld nehmen, frage ich ihn, er sagt, man müsse nur zu einem bestimmten Büro gehen und den Zweck angeben, dann bekomme man irgendwelche Scheine. Wir fahren also durch eine wüste Trümmerstadt zu einem düsteren Amtsgebäude, an einem Schalter werden mir tatsächlich Zettel ausgehändigt, die mit Geld aber gar keine Ähnlichkeit haben, beklommen zeige ich sie G., der zuckt die Achseln: Naturalwirtschaft, sagt er. Jetzt müssen wir dieses nach meiner Überzeugung wertlose »Geld« also zur Mutter unseres toten Freundes bringen, wir fahren durch unwegsames Gelände und landen vor einem Haus, das nun wohl von allen meinen desolaten Traumhäusern das desolateste ist, vollkommen verwahrlost, einer der Giebel ragt als Kulisse in den Himmel, auf dem Hofliegen einzelne Pflastersteine, dazwischen Schlamm und Gras, wir sagen: Hier hat der letzte Regen aber sehr geschadet. Die Mutter unseres toten Freundes kommt uns entgegen, ganz verändert, devastiert, alte, verschwommene Gesichtszüge, sie, die immer so korrekt gekleidet war, ist in dicke schmutzige Sachen gehüllt, offenbar hat sie gefroren, sie führt uns in einen unwirtlichen kalten Raum, wir merken, daß sie über unseren Besuch erschrocken ist und sich fragt, ob wir etwa bei ihr übernachten wollen, wir beruhigen sie, liefern die Geldzettel ab, mit denen sie nichts anfangen kann. Ihr Sohn schicke uns, sagen wir, ach ja, sagt sie leichthin, der sorge noch aus dem Grab heraus für sie. Ich habe den Eindruck, die Frau ist nicht bei Sinnen, halb verrückt vor Einsamkeit, schwer bedrückt verlassen wir sie und treffen auf unsere jüngere Tochter, die uns sagt, die Frau verstelle sich nur, wenn sie freundlich tue, eben habe sie durchs Fenster sehen können, wie sie das »Geld« mit einem boshaften Grinsen in den Ofen gesteckt habe.
    Im Aufwachen hatte ich das Gefühl, der Traum symbolisiere in der Verkleidung eines bösen Märchens von der alten Hexe den Untergang des ostdeutschen Staates, der

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