Stadt der Engel
Telefon nannte, daraufhin natürlich eingeladen wurde und euch dann berichtete, er, der in Leningrad Naturwissenschaften studiere – das mag er nebenberuflich auch getan haben –, habe Efim zufällig in einem Antiquariat getroffen – o diese russischen Zufälle! –, wo dieser Bücher zum Kauf angeboten habe, weil er gezwungen sei, das Land zu verlassen: Das habe er ihm im Vertrauen gesagt, da sie noch eine Weile miteinander gesprochen hätten. Und Efim habe ihn beauftragt, euch zu fragen, ob er vom westlichen Ausland weiterhin mit euch in Kontakt bleiben dürfe oder ob das für euch zu gefährlich sei, und ihr, unheilbar leichtgläubig, beteuertet, daß ihr die Verbindung mit Efim halten wolltet, und botet ihm eure Hilfe an.
So steht es auf russisch in deutscher Übersetzung, versehen mit russischen Stempeln, in den Akten. Efim habt ihr immer wieder getroffen, auf der Straße in Bloomsbury in London, in einer westdeutschen Stadt, wo ihr gemeinsam an einer Tagung teilnahmt, in Potsdam, nun schon nach der »Wende«, wo er zuletzt wohnte, auf seiner Dachterrasse, bei russischem Essen. Er steckte voller russischer und jüdischer Anekdoten, ihr habt viel gelacht, aber er wollte immer auch über die ernstesten Fragen sprechen, ihn quälte eine Unruhe über die Zukunft, die versuchte er aus sich herauszutreiben, indem er unermüdlich rund um den Globus reiste, um Vorträge zu halten, zu unterrichten. Sein Herz war nicht gesund. Irgendwo unterwegs werde er einmal umfallen, dachtet ihr. Dann starb er aber da, wo er es nie im Leben erwartet hatte, in Potsdam.
Ich habe nie so recht verstanden, sagte ich zu Peter Gutman, wieso ein so banaler Vorgang zwei Geheimdienste beschäftigen konnte.
Tja, sagte Peter Gutman, ihr habt euch wohl nicht genug Mühe gegeben, euch in ihre Denkweise zu versetzen.
Ach doch, sagte ich. Manchmal haben wir alles gewußt, dann haben wir es wieder vergessen, manche Einsichten haben es an sich, in unvorhersehbarem Rhythmus aufzutauchen und wieder zu versinken, im »Meer des Vergessens«, das ist doch ein schönes Bild. Findest du es nicht eigenartig, fragte ich und merkte gar nicht, wie ich zum Du übergegangen war, daß unser Gehirn nicht dafür gemacht zu sein scheint, solche schlichten Einsichten aufzubewahren. Daß es dafür aber alle Arten von Geschichten leicht und leichtfertig aufnimmt und oft genug festhält.
Einspruch, Euer Ehren, sagte Peter Gutman, und mir fiel ein, daß er aus England kam und daß hinter seinem Namen in der Gästeliste als Berufsbezeichnung »essayist« stand.
Wieso denn, sagte ich. Geschichten sind aufgehoben im Strom des Erzählens durch die Jahrhunderte, erzählt ist erzählt. Nie mehr wird Achill als etwas anderes denn als Held erscheinen dürfen. Oder nimm Werther. Wieder und wieder wird er sich diese Kugel in den Kopf schießen, Goethe selbst hätte sie nicht mehr aufhalten können. Also was tun. Oder vielmehr was schreiben, wie schreiben. Daß am Ende jedermann stirbt, ist zwar tragisch, aber das ergibt doch noch keine Geschichte. Oder was denkst du.
Weiß nicht, sagte Peter Gutman. Was du sagst, ist nicht weit entfernt von dem, was mein Philosoph über das Erzählen schreibt, ich werde dir das mal berichten. Aber etwas anderes: Würdest du meinen, daß es eine Geschichte ergibt, wenn in einem Leben ein Motiv sich immer und immer wiederholt.
Das weiß ich nicht, sagte ich. An welches Motiv denkst du denn.
Zum Beispiel an das Motiv des verpfuschten Lebens.
Also hör mal. Du als Literaturkenner müßtest wissen …
Komm komm. Die Bücher kenn ich alle, mit all ihren Geschichten. Sie nützen mir nichts.
Right, sagte ich. Da sind wir uns einig.
Und dabei wollte Peter Gutman es für heute belassen. Erstand auf, ging. Nach einigen Minuten rief er an. Danke für den Abend. Du wirst gemerkt haben: Es ging um mich. Ich bin der, der dabei ist, sein Leben zu verpfuschen. Nein, sag jetzt nichts. Hat mir gut getan, zu reden.
Ich hatte in jene Gehirnspur, die für Alltagsverrichtungen zuständig ist, das Busliniennetz von Santa Monica und Los Angeles eingespeist und die Benutzungsanweisung für die Universitätsbibliothek. Unangefochten fuhr ich im Blue Bus Line Two die endlosen, schnurgeraden palmenumsäumten Straßen entlang, immer in diesem unwirklichen Licht, ich suchte und fand auf dem Campus der UCLA die Bibliothek, gab meine Lesekarte in einen Computer ein, ließ auf dem Bildschirm eines anderen Computers auf ein Stichwort hin Autoren- und Titellisten vor
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