Stadt der Engel
sein Ende fand in den Menschenschlangen, die vor den Banken nach dem neuen Geld anstanden, in dem Autokorso, der um Mitternacht rund um den Alexanderplatz mit viel Lärm und Sekt die Ankunft des neuen Geldes feierte, im Halbschlaf schoben sich mir die Fernsehbilder vor die Traumbilder, die ich festhalten, deren Bedeutung ich entziffern wollte, sie schwanden. Ich schlief noch einmal ein.
Am Morgen verlangte es mich nach den Briefen von L., deren Existenz meinen Aufenthalt an diesem Ort rechtfertigte. Der rote Aktendeckel lag griffbereit im Regal neben dem wachsenden Zeitungsstapel – heute liegt er in einer Schublade, in der ich noch andere Erinnerungsstücke an Emma aufbewahre: Fotografien aus verschiedenen Abschnitten ihres Lebens, alle erst aus der Nachkriegszeit, Emma als lebenslustige Frau unter Freunden, auch mit mir im Garten vor ihrer Laube, dasalte zerflederte Kochbuch, dessen Gerichte sie für mich gekocht hat, ihr uraltes Parteibuch, das in die zwanziger Jahre zurückreicht, Kopien von Gerichtsakten aus den fünfziger Jahren, als sie, wegen »ungerechtfertigter Anschuldigungen«, wie es im Rehabilitationsschreiben heißt, zwei Jahre in einem Gefängnis der Deutschen Demokratischen Republik einsaß. Nächtelang haben wir darüber gesprochen.
Sie fehlte mir. Gerade jetzt fehlte sie mir sehr. Niemand konnte wie sie die Dinge zurechtrücken. Durch die Worte ihrer Freundin L. wollte ich ihre Stimme hören. Ich setzte mich an den Tisch und schlug den roten Aktendeckel auf: Ein Häufchen zum Teil angegilbter Briefblätter in verschiedenen Größen, zumeist in amerikanischem Papierformat, fast alle auf der Schreibmaschine, einige mit der Hand geschrieben – mit einer ausgreifenden, beinahe männlich wirkenden Frauenschrift, die sich über die mehr als drei Jahrzehnte hin, die diese Briefe umfassen, in eine schwer lesbare Altersschrift verwandelt hat. Briefumschläge mit einem Absender gibt es nicht, nicht einen einzigen, als hätte die Empfängerin sie gründlich und sorgfältig vernichtet. Kein Foto, und auch sonst keinen Anhaltspunkt über die Absenderin, außer vor dem jeweiligen Datum die Ortsangabe »Los Angeles«.
Das sah Emma ähnlich: Nie mit mir reden wollen über meinen Plan, ihre Biographie zu schreiben, mir dann aber kommentarlos wichtige Materialien dafür hinterlassen. Eine Botschaft, die heißen mußte: Schreib! Was sie nicht vorhersehen konnte: Daß mich etwas wie eine Besessenheit packen würde, die Absenderin der L.-Briefe aufzuspüren, das Rätsel zu lösen, das diese Briefe mir aufgaben.
Immer noch mußte ich eine Hemmung überwinden, wenn ich in diesen Briefen las. Sehr vorsichtig faßte ich die frühesten Blätter an, in der Furcht, das dünne Papier, das an den Rändern schon ausfranste, könnte mir unter den Händen zerfallen. Heute verwundert mich mein Leichtsinn, die Originale der Briefe auf diese weite Reise mitgenommen zu haben, anstatt Kopienherzustellen, wie sie inzwischen vor mir liegen, während die Originale in einem Banksafe gesichert sind.
Der erste Brief, vom September 1945. Die blaue Tinte, mit der das Blatt beidseitig beschrieben war, schien auf der je anderen Seite durch und erschwerte das Entziffern. Die ersten Sätze kannte ich auswendig:
»Emma, meine Liebe, ich hoffe und wünsche, ich schreibe an eine Lebende. Das ist die wichtigste Frage, die man heute an seine Freunde in Europa stellen kann. Bitte, beantworte mir diese Frage so schnell wie möglich, auch wenn es immer noch schwierig sein mag, von Euch aus einen Brief nach Übersee zu schicken. Ich gebe diese Botschaft einem jungen Mann mit, der als Korrespondent einer großen amerikanischen Zeitung Europa bereisen wird. Wenn Du noch da lebst, wo ich Dich vermute, wird er Dich besuchen und Dich bitten, ihm einen Brief für mich mitzugeben. Eben habe ich in meinem alten Adreßbuch geblättert, eines der ganz wenigen Dinge, die ich bei meiner Flucht aus Europa mitgenommen und über alle Stationen meines Exils gehütet habe, und war erschrocken, auch traurig, wie wenige Namen geblieben sind, an die ich einen solchen Brief richten kann. Der Führer hat es beinahe geschafft, tabula rasa zu machen mit unseren Leuten. Dein Name, Emma, hat immer ganz oben auf meiner inneren Liste gestanden. All die düsteren Jahre über hat er mich begleitet wie ein Signal, an das ich mich halten konnte: Wenn Frieden sein wird, werde ich Dich wiederfinden, und Du wirst die alte sein – daran hatte ich nie den Funken eines Zweifels.
Von
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