Stadt der Engel
Therapie deuten konnte, und ich fragte mich, als ich etwas mühsam die Treppe zu meinem Apartment hochstieg, ob ich mir nicht noch einmal eine jener Tabletten leisten sollte, von denen Doktor Kim nichts wissen durfte, da er mir schon jeglichen Kaffee- und Weingenuß untersagt hatte – no coffee, no wine! –, weil nach seiner Meinung diese schädlichen Drogen das freie Fließen der Energieströme blockierten, das Doktor Kim gerade in mir anregen wollte.
Unvorbereitet traf mich dann die Meldung, die ich nicht hören wollte, die in den Fernsehnachrichten kam, ehe ich fluchtartig den Raum verlassen konnte, nur die Augen konnte ich noch schließen, und in der Zeitung konnte ich die Seite überblättern, auf der jene »Elektrischer Stuhl« genannte Mordvorrichtung abgebildet war. Aber der Mann, der seit seiner Mordtat zehn Jahre im Todestrakt gesessen hatte, war mit einer Giftspritze getötet worden. Verzweifelt versuchte ich, die Vorstellung zu verdrängen, es gelang nicht. Verzweifelt versuchte ich, der Nachricht von der Entführung jener Archäologin im Irak mit Gleichmut zu begegnen, damit sie erträglicher würde. Es gelang nicht, oder nur zeitweise. Ich weiß noch, wie ich als Kind manchmal in meinem Bett lag und mich fragte, wie ich die Nachrichten von dem Leid, das anderen Menschen andauernd zugefügt wurde, und die Angst vor eigenen Verletzungen ein ganzes langes Leben lang aushalten sollte. Da wußte ich noch nicht und hätte es nicht geglaubt, daß Mitgefühl sich abschwächen kann, wenn es übermäßig beansprucht wird. Daß es nicht in der gleichen Menge nachwächst, wie es ausgegeben wird. Daß man, ohne es zu wissen und zu wollen, Schutztechniken entwickelt gegen selbstzerstörerisches Mitgefühl.
Ich strebte dem CENTER zu, durchquerte die Halle. How are you doing today? Great, thank you. O good. Vier Fahrstühle, zwei auf der einen, zwei auf der anderen Seite. Ich stelltesie mir durchsichtig vor, sah die gläsernen Kabinen auf- und abschweben, die den Kreislauf des Bürohochhauses in Gang hielten, sah die Münder der Menschen in den Kabinen sich bewegen zu immer den gleichen Fragen, immer den gleichen Antworten, sah die Fahrstühle auf den verschiedenen Stockwerken anhalten, die jungen Damen mit ihren Aktenbündeln ihre wichtigen Botschaften in jede Zelle, jeden Winkel des großen Hauses tragen: Es geht uns prächtig, wunderbar, ausgezeichnet. Es könnte uns nicht besser gehen. Und so überall im Land. Und meine Annahme, das ewige Lächeln müßte anstrengend sein, war falsch, wie ich inzwischen wußte. Normalverhalten strengt nicht an.
In meinem Postfach fand ich jetzt immer häufiger Briefe aus der Stadt, darunter Einladungen, ein Zeichen, daß immer mehr Personen und Institutionen von meiner Anwesenheit erfahren hatten. Ein Westberliner Kollege würde also über den Ozean hergeflogen kommen, um hier, wo niemand ihn und seine Vergangenheit kannte, unter der Überschrift: Es gibt kein richtiges Leben im falschen, gegen diejenigen seiner Kollegen zu polemisieren, die sich nicht öffentlich von ihren linken Verirrungen losgesagt hatten, wie er selbst es kürzlich getan hatte, nicht ohne hinzuzufügen, für ihn sei ganz klar, daß die Kollegen unter dem Regime im Osten kein sinnvolles Leben hätten führen können.
Ich kannte diesen Mann nicht persönlich und wollte mich vor Ungerechtigkeit ihm gegenüber hüten. Aber ich mußte mich doch fragen, ob er nicht – gerade er, der zu den Linkesten gehört hatte! – wenigstens seinen Adorno kennen sollte; ob er nicht wissen könnte, daß dieser Satz aus den MINIMA MORALIA, der von allen Medien als Waffe gegen die Intellektuellen in der DDR benutzt wurde, am Ende des 18. Kapitels unter der Überschrift »Asyl für Obdachlose« steht und die Unmöglichkeit angemessenen Wohnens unter den gegebenen »falschen«, nämlich kapitalistischen Verhältnissen erörtert: Eigentlich kann man überhaupt nicht mehr wohnen. Aber – wasauch immer sie ursprünglich bedeutete – man konnte sich eine so griffige Formulierung wohl nicht entgehen lassen.
Ich setzte mich an mein Maschinchen und schrieb:
was wäre denn das richtige leben im richtigen gewesen. wenn es uns bei kriegsende geglückt wäre, mit unserem flüchtlingstreck noch über die elbe zu kommen, der wir doch mit der letzten kraft der zugpferde zustrebten? wäre ich unter den anderen, den richtigen verhältnissen ein anderer mensch geworden? klüger, besser, ohne schuld? aber warum kann ich immer noch nicht
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