Stadt der Engel
wünschen, mein leben zu tauschen gegen jenes leichtere, bessere?
Da mußte ich loslaufen, weg von der geduldigen terroristischen Schreibmaschine, raus aus meinem stillen Apartment, der Zelle, in der die Wände auf mich zukamen, mußte dem Dauermonolog in meinem Kopf entfliehen, hin zu jener Stelle an der Ocean Park Promenade, von der ich den freiesten Blick auf den Pazifischen Ozean hatte.
Kaum zu glauben und schwer auszuhalten, daß alle diese Leute, die mir auf der Ocean Park Promenade entgegenkamen, unschuldig sein sollten, Menschen ohne Schuld, die gab es, das japanische Liebespaar, das sich zuerst mit Selbstauslöser in verschiedenen Posen fotografierte, dann mich bat, sie beide abzulichten bei dem Versuch, den Stamm eines mächtigen Eukalyptusbaumes zu umarmen, unschuldig auch die mexikanische Großfamilie, die sich zwei Bänke zusammengerückt hatte und aus recycelbaren Fast-Food-Behältern Hamburger und Hot dogs speiste, schuldlos sie alle, von der in leuchtende indianische Farben gehüllten Frau bis zum neugeborenen braunhäutigen Säugling, mochten auch einige Mitglieder ihres Clans illegal über die Grenze gekommen sein. Darum ging es nicht. Die einzeln oder zu zweit joggenden jungen Leute, manche an Pulszähler angeschlossen, oder an Schrittgeber, was wußte dennich, manche aus Erschwernisgründen auch noch mit Hanteln bewaffnet. DO YOU LIKE ME stand mit schwarzen Buchstaben auf ihren durchgeschwitzten T-Shirts, und da konnte es ja keine andere Antwort geben als ja und nochmals ja.
Oder die Gruppe russischer Emigranten, denen ich von meiner Bank aus, Beobachtungsposten, das Russische von weitem ansah, schuldlos auch sie, gerade sie. Ich versuchte, während sie vorbeigingen, etwas von ihrer Sprache aufzuschnappen, das Russische, das uns meine erste Russischlehrerin, eine Baltendeutsche, dringend anempfahl – uns Abiturienten, aus allen möglichen Gegenden des besiegten Großdeutschen Reiches in die thüringische Kleinstadt verschlagen und auf nichts weniger aus als darauf, diese Sprache der Sieger zu lernen: Lernt, Kinderchen, lernt, wo der Russe einmal ist, geht er nie wieder weg. Ein paar Wörter schnappte ich auf, ich wagte nicht zu fragen, zu welcher der verschiedenen Emigrationswellen dieser Familienverband gehörte. Die Kinder, merkte ich, riefen sich Wörter auf Englisch zu.
Mich überspülte eine Erinnerungswoge, ausgelöst durch die Sprache, durch das Wort »Moskau«. Die Erinnerung an meine letzte Moskau-Reise im Oktober 1989, die mich schwer deprimierte wegen der bedrückenden Auskünfte der Freunde über den Zustand ihres Landes.
Vor dem Rückflug, auf dem Flughafen Scheremetjewo, wurdest du von einer jungen Frau angesprochen, im reinsten Sächsisch. Sie, die Mitglieder eines Madrigalchors aus Halle, seien wochenlang in Mittelasien unterwegs gewesen, abgeschnitten von Nachrichten aus der DDR, ob du etwas von den letzten Leipziger Montagsdemonstrationen wüßtest, es gebe Gerüchte über Opfer unter den Demonstranten nach Zusammenstößen mit den Sicherheitskräften, sie seien in Sorge um ihre Angehörigen und Freunde, ob du ihnen etwas sagen könntest. O ja, das konntest du. Am vergangenen Montag, dem 9. Oktober 1989, warst du mittags in Moskau angekommen, in der Nacht hattest du zu Hause angerufen, voll Besorgnis um das Schicksal derDemonstranten in Leipzig, da hörtest du, was du jetzt weitersagen konntest: Es waren hunderttausend auf der Straße, und nichts ist passiert. Und da empfandest du noch mal dasselbe Glück, das diese junge Frau jetzt empfand, die dich umarmte und die gute Nachricht an die anderen Chormitglieder weitergab.
Während ihr, eine große Menge von Reisenden, viele westdeutsche Touristen darunter, in der Abflughalle warten mußtet, formierte sich auf leise Anweisung hinter dir der Chor und fing zu singen an, O TÄLER WEIT, O HÖHN, vielstimmig, sehr rein, sehr klar, sehr innig. Du als einzige von allen Zuhörern verstandest, warum sie sangen, und du mußtest dich wegdrehen und hättest dein wehes und bewegtes Gefühl nicht benennen können. Es war nicht nur ein Abschied von Moskau, der hier stattfand. Und später, in der neuen Zeit, wieder und wieder hochnotpeinlich verhört, was es denn um Himmels willen gewesen sein sollte mit diesem maroden Land, daß man ihm auch nur eine Träne nachweinen konnte. Was es denn außer Schrott und Spitzel-Akten einzubringen habe in das große, reiche und freie Deutschland. Da hast du manchmal an diese Minuten denken müssen auf
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