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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dem Flughafen in Moskau: Das haben wir jetzt für Sie gesungen. Und an die erstaunten, befremdeten Gesichter der westdeutschen Reisenden, die sich den Herkunftsort des Chores zuflüsterten und am Ende begeistert Beifall klatschten. Sie hatten den Gesang genossen, den schmerzlich freudigen Unterton nicht wahrnehmen können, und da schwiegst du eben, als man später mit Fragen und Vorwürfen in dich drang.
    Irgendwann bildete sich der Satz: Wir haben dieses Land geliebt. Ein unmöglicher Satz, der nichts als Hohn und Spott verdient hätte, wenn du ihn ausgesprochen hättest. Aber das tatest du nicht. Du behieltest ihn für dich, wie du nun vieles für dich behältst.
    Man wird müde davon, ich mußte manchmal alles stehen- und liegenlassen und in mein Apartment gehen und mich hinlegen. Ich fing an, die Tagebücher von Thomas Mann zu lesen,die er an diesem Ort, wenige Kilometer vom ms. victoria entfernt, als Emigrant geschrieben hatte, aber das Buch fiel mir bald aus der Hand, ich schlief ein. Wir fahren auf der Autobahn in Richtung Berlin, wieder mal habe ich den Autoatlas auf den Knien und suche das Land, die Stadt, in die wir auswandern könnten, mein Gefährte redet von den Radarfallen, deren Standorte er kennt, noch nie habe ihn die Verkehrspolizei bei überhöhter Geschwindigkeit ertappt, ich sage: Aber es ist doch nicht mehr dieselbe Polizei, er sagt, doch, sie hätten nur die Uniform gewechselt, und die neuen Geschwindigkeitsschilder seien Täuschung, in Wirklichkeit müßten wir uns an die alte Geschwindigkeitsbegrenzung von hundert Stundenkilometern halten, alles andere werde bestraft. Auf der linken Spur rasen wie immer die Westwagen an uns vorbei, die dürfen das, sagt er, weil für sie andere Gesetze gelten. Auf einmal sitzen wir mit unseren Töchtern und unseren Schwiegersöhnen im Café Kranzler am Ku’damm, ich ahne schon, was die ältere Tochter uns sagen will, sie sagt: Also wir haben uns entschlossen wegzugehen, warum sollen wir auf ewig in das graue Leben hier und in den Mangel und in die Enge eingesperrt sein. Ich nicke und habe das quälende Gefühl, daß irgend etwas an ihrer Entscheidung nicht stimmt, ich komme nicht darauf, was es sein könnte, unser zweiter Schwiegersohn sagt bekümmert, nun würden wir wohl auch weggehen, ich sage: Aber nein, das ist doch gar nicht nötig. Wir haben alle riesige Eisbecher mit Schlagsahne vor uns und sind traurig, jetzt hat es uns auch erwischt, dachte ich beim Aufwachen und brauchte lange, um mir klarzumachen, warum es nicht mehr nötig, ja nicht mehr möglich war wegzugehen.
    Peter Gutman kam, nicht zum ersten Mal im rechten Moment. Du scheinst einen Draht dafür zu haben, wann du hier auftauchen sollst, sagte ich. Er wollte wissen, was los war.
    Ich habe herausgefunden, sagte ich, daß meine Gefühlslage häufig nicht den historischen Ereignissen angemessen ist.
    Ein Beispiel, wenn’s genehm ist?
    Gerne. Der Fall der Mauer war ein Jubeltag, wie du weißt. So wird er auch für immer in den Geschichtsbüchern stehen.
    Ja, und?
    Und ich habe ihn so erlebt: Am Abend waren wir im Kino, bei der Premiere des Films, der das »Coming Out« eines homosexuellen Lehrers in der DDR schilderte, ein Thema, das öffentlich noch nicht behandelt worden war. Das Publikum war sehr bewegt und spendete dem Filmteam minutenlang Beifall. In jenen Tagen waren wir alle aufgewühlt von den Vorgängen in unserem Land. Danach gingen wir zu unserer Tochter. Unser Schwiegersohn empfing uns an der Wohnungstür: Habt ihr schon gehört? Die Mauer ist offen. – Und was sagte ich darauf ganz spontan? Ich sagte: Dann solln sie auf dem ZK die weiße Fahne hissen.
    Na und? sagte Peter Gutman. War das falsch?
    Nicht falsch. Unangemessen. Ich hätte meinem Schwiegersohn um den Hals fallen müssen und schreien: Wahnsinn! Ich hätte in Freudentränen ausbrechen müssen.
    Ja, ja, sagte Peter Gutman.

IMMER DIESE ZWIESPÄLTIGEN GEFÜHLE
    IMMER DIESE ZWIESPÄLTIGEN GEFÜHLE Zwiespältig? dachte ich. Hatte ich zwiespältige Gefühle, als wir dann auf dem Nachhauseweg in unserem Auto lange an der Kreuzung Schönhauser / Bornholmer Straße stehen mußten, weil der Strom der Trabis und Wartburgs, der auf den Grenzübergang Bornholmer zuflutete, nicht abriß? Was habe ich da wirklich gefühlt? Freude? Triumph? Erleichterung? Nein. Etwas wie Schrecken. Etwas wie Scham. Etwas wie Bedrückung. Und Resignation. Es war vorbei. Ich hatte verstanden.
    Wenn man immer wüßte, was noch kommen wird, sagte ich.
    Was

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