Stadt der Engel
du beschreibst, sagte Peter Gutman, sind die harmloseren Gefühlsirrtümer. Es gibt schlimmere. Verhängnisvolle.Mein Vater zum Beispiel. Oberpostsekretär in Bromberg. Was fühlte er, als Hitler an die Macht kam: Entsetzen? Angst? Mitnichten. Sorglosigkeit hat er empfunden. Warnungen hat er in den Wind geschlagen. Bis die Gestapo ihn für eine Woche einsperrte. Da begriff er und brachte seine Gefühle auf den Stand der Dinge. Da schickte er seine beiden Söhne mit der nächsten Gelegenheit nach England und betrieb die Ausreise für meine Mutter, die damals noch nicht meine Mutter war, weil ich noch nicht geboren war, und sich selbst. Sie kamen weg und überlebten. Wie viele sind mit ihren falschen Gefühlen, mit ihrer Gutgläubigkeit, in den Tod gegangen.
Ich sagte: In Bromberg ist meine Mutter geboren. Mein Großvater war dort Fahrkartenknipser bei der Reichsbahn. Er trank gerne einen über den Durst.
Na siehst du, sagte Peter Gutman, als sei das ein Trost. Wir mußten beide lachen.
Später rief er an: Übrigens – so fingen die meisten seiner Reden an – übrigens hat mein Philosoph sich auch zu der Inkongruenz von objektivem Ereignis und subjektivem Fühlen geäußert.
Ich sagte: Davon bin ich überzeugt. Was sagt er denn?
Er sagt, nicht immer sind die Tatsachen gegenüber den Gefühlen im Recht.
Ich sagte: Das hast du dir jetzt ausgedacht.
Und er: Madame! Das würde ich nie wagen.
Erinnerungsbilder: Ich saß mit John und Judy zum ersten Mal in dem Café, das unser Stammcafé werden würde, in der 17th Street, wo man gute Salate für nicht zu teures Geld bekam. John hatte mir mehrmals Briefe ins CENTER geschrieben, mit Einladungen, und ich hatte geantwortet, ja, ich würde mich gerne mit ihm und einer Gruppe jüdischer Freunde treffen, »survivors« schrieb er, oder Angehörige der »second generation«. Sie wollten mit mir über Deutschland reden. Ich hatte Angst vor diesem Treffen, aber ich wollte ja zuerst John und Judy, seineFrau, kennenlernen. John, der mich zum Dinner abholte, der jetzt und auch später »alles in die Hand nahm«. Hope you are fine, sagte er, als kennten wir uns schon lange, und ich, zu meiner Überraschung, sagte: Not really fine, John. Und er, wiederum überraschend: I know. But don’t worry. You will be fine.
Künftige Freunde, wußte ich. Ein Ehepaar Mitte vierzig, er groß, schlank, mittelblondes, glatt zurückgekämmtes Haar, korrekt; sie klein, dunkelhaarig, lockig, lebhaft. Zum ersten Mal saßen wir uns gegenüber, und John erzählte fast sofort von seiner Familie, deren letzte Überlebende er jetzt, nach der »Wende«, in Ostberlin entdeckt hatte, zwei Cousins, die mit Frau und Kindern in der Karl-Marx-Allee in Berlin wohnten, der eine Ingenieur, der andere Verlagslektor, die sich, wie John es ausdrückte, durch die Vereinigung »kolonisiert« fühlten. Er breitete über den Tisch, über die Salatteller, ein großes Blatt mit seinem Familienstammbaum aus, den er über Jahre erforscht und selbst gezeichnet hatte. Ich hörte den ersten der vielen Berichte über deutsch-jüdische Lebensläufe, die ich noch zu hören kriegen würde: Der Bericht von den Eltern, die im letzten Moment, 1939, Deutschland verlassen können, wie sie über England, wo John später geboren wird, schließlich in die USA kommen und sich lange mit Gelegenheitsjobs durchschlagen. Zum ersten Mal hörte ich, daß ein Nachkomme vertriebener Juden sich zu Deutschland hingezogen fühlte. Dort seien doch seine Wurzeln, sagte John. Sorgfältig pflegte er die Beziehung zu seinen neu gewonnenen Verwandten in Ostberlin, mit leidenschaftlichem Interesse sammelte er alles, was er über die Vereinigung der beiden deutschen Staaten finden konnte, er steckte mir Artikel darüber zu, aus der Mappe, die er immer mit sich führte und jeweils auf den neuesten Stand brachte. Er war der erste Amerikaner hier, der keinen verklärten Gesichtsausdruck von mir erwartete, wenn das Wort »Vereinigung« fiel.
Judy und er teilten sich eine Soziologenstelle an der Universität, sie arbeiteten über Industriemanagement und verhehlten nicht, daß sie die kapitalistische Wirtschaftsordnung wegenihres Zwangs zu endlosem wirtschaftlichen Wachstum für pervers hielten, aber mit dieser Meinung könnten sie nicht an die Öffentlichkeit gehen, sagten sie, n o c h nicht. Nicht nur, weil das auf lange Sicht ihren Job gefährden könnte, sondern vor allem, weil kaum jemand sie verstehen würde. Man hat es doch fertiggebracht, den Leuten
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