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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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einzureden, sagte John, daß sie in der besten aller möglichen Welten leben, und solange sie das gegen allen Augenschein glauben, sind sie taub für andere Meinungen. Wahrscheinlich würden nur Katastrophen sie wachrütteln, und die könne man ja wirklich nicht herbeiwünschen. Bis dahin müßten sie die Zeit nutzen und überzeugende Fakten sammeln, aber auch, wenn möglich, Vorschläge für Alternativen entwickeln.
    Wie ich das kenne, sagte ich.
    Wie ich das kannte. Wie oft ich in den letzten Jahren, den Niedergang meines Landes beobachtend, die Zeilen des alten Goethe memoriert hatte, die beginnen: Wir wollen die Umwälzungen nicht wünschen, die in Deutschland klassische Werke vorbereiten könnten. »Literarischer Sansculottismus«.
    Wünschen müssen, was Zerstörung bedeutet, in der Klemme sitzen. Ohne Alternativen leben lernen. Deutsche Zustände.
    Man würde uns unter verrückt verbuchen, sagte John, so weit haben wir uns mit unseren Ansichten an den Rand der Gesellschaft manövriert. Ich hätte vielleicht schon gemerkt, wie stark der Anpassungsdruck in den Staaten sei und wie wenig er von den Betroffenen überhaupt wahrgenommen werde. Daß der Alltag Amerikas als Norm für die ganze Welt gelte. Daß es als normal gelte, für Profit und Erfolg zu leben. Daß der Präsident nur von einem Drittel der Bürger gewählt werde und man sich für die vorbildlichste aller Demokratien halte. Das alles gelte nach dem Zusammenbruch des Kommunismus als gesichert in alle Ewigkeit. Es werde viel Zeit vergehen, bis die immensen Widersprüche, die im System lägen, aufbrechen würden. Dann aber müßten sie wenigstens theoretisch darauf vorbereitet sein.
    Ihr Armen! dachte ich, das weiß ich noch, halb mitleidig, halb neidisch. Sie waren jedenfalls nicht von Selbstzweifeln zerfressen, das muß eine große Hilfe sein, dachte ich. Ihr wißt nicht, was euch noch bevorsteht, dachte ich. Wir aber wissen es jetzt und müssen zugeben, daß unsere Phantasie damals nicht ausreichte, um uns vorzustellen, daß einmal über zweitausend Särge mit toten amerikanischen Soldaten aus dem Irak in die USA transportiert werden würden, ohne daß die Amerikaner dagegen aufbegehrten.
    Viele Einzelheiten verschwimmen, natürlich kann ich mich an die verschiedenen Phasen der Berichterstattung aus Europa nicht mehr genau erinnern, aber ich weiß noch, daß die Beiträge, die mir zugeschickt oder gefaxt wurden und die Kätchen mir in einer Mappe überreichte, andere Töne anschlugen, ungeduldigere, heftigere, schärfere. Ich las die Leserbriefseiten der Zeitungen: Die westdeutschen Leser hatten genug von den Problemen der ostdeutschen. Sie zeigten echte Ratlosigkeit: Was denn um Himmels willen dieses Geschrei um angebliche Werte bedeuten solle, die man von dem untergegangenen Staat bewahren wolle? Was man denn von einer Diktatur bewahren könne?

    gentle, precise and open, sagt die nonne, schrieb ich in mein Maschinchen, ich saß viele Stunden am Tag an der Schmalseite meines Eßtisches und schrieb, was jeder, der davon wußte, für Fleiß hielt, außer mir selbst, die ich wußte, was Fleiß war oder gewesen wäre, aber vielleicht fiel mein Unfleiß ja auch unter das alles verzeihende Verständnis der Nonne.

    sanftheit ist eine art güte uns selbst gegenüber, übersetzte ich die Zeilen der Nonne, genauigkeit verhilft uns dazu, klar zu sehen, ohne uns davor zu fürchten, so wie ein wissenschaftler sich nicht davor fürchtet, ins mikroskop zu sehen, und offenheit ist die fähigkeit, gehen zu lassen und sich zu öffnen.

    Was mir einleuchten wollte, immer haben solche Sätze mir einleuchten wollen, denke ich jetzt, Jahre später, Jahre, die strikt gegen diese Sätze gearbeitet haben. Mir fällt mein Traum von heute nacht ein: Ich bin mit meiner ganzen Familie zusammen in einer Art Höhle, auf einem freien Feld vor uns erhebt sich ein riesiger Turm, eine Eisenkonstruktion in der Art des Eiffelturms, der sich langsam nach rechts neigt, ein entsetzlicher Anblick, und dann wie ein Taschenmesser an zwei Stellen einknickt. Wir fliehen, wie viele Menschen um uns herum, in Panik, ich vermisse meine Großmutter, laufe zurück, die Höhle hat sich inzwischen in ein kleines passables Restaurant verwandelt, dort sitzt meine Großmutter im Rollstuhl und blickt mir entgegen. Ich denke: Elfter September! und wache schreiend auf. Epochenscheide, höre ich eine Stimme.
    Das letzte Mal, als ich schreiend aus dem Schlaf fuhr, erinnere ich mich, das war in der Nacht nach

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