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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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Zweifel anschrieb, 1950, zwei Jahre nachdem Stalin Jugoslawien, eines der Fluchtländer der Fürnbergs, das sie liebten, aus der sozialistischen Völkergemeinschaft exkommuniziert hatte. Denn wer kämpft für das Recht, der hat immer recht, gegen Lüge und Ausbeuterei. Das Lied der Versammlungen, auf denen der Genosse Stalin in das Ehrenpräsidium gewählt wurde, neben dem Genossen Mao Tse-tung.
    Bis eines Tages in einer Versammlung ein Bericht des Genossen Chruschtschow verlesen wurde, über den Personenkult um Stalin und erste Andeutungen seiner »Fehler«, und Genossen, die in der Sowjetunion im Exil gewesen waren, in Tränen ausbrachen und bekannten, sie hätten manches selbst erlebt, vieles gewußt, aber geschwiegen, um den Aufbau in unserem Land nicht zu gefährden, und da war es KuBa, der zum Rednerpultlief und sagte, er danke den Genossen, daß sie ein schweres Geheimnis der Partei so lange bewahrt hätten. Von da an hielt er den Genossen Chruschtschow für einen Renegaten und Verräter, während Louis Fürnberg einen Jubelbrief schickte: Tauwetter! Endlich wieder schreiben können! – Dieser Jubel verriet die tiefe Bedrückung, in der er und viele Genossen seiner Generation so lange gelebt hatten. Und keine Alternative sahen. Und schwiegen. Und Gedichte schrieben wie:

    Schwere Stunde

    Vielleicht sind wir um eines größren Ziels
    zum Opfer ausersehn; dann heißt es schweigen,
    auch wenn uns Schmerz und Scham den Nacken beugen
    im Anblick dieses Spiels.

    Heut hat mich der Tod berührt , schreibt Louis Fürnberg am 23. November 1953. Als er an Herzinfarkt starb, 1957, mit achtundvierzig Jahren, wurde er in Weimar von einer Menschenmenge zu Grabe getragen, du warst im Trauerzug dabei.
    Andere Trauerzüge tauchen vor meinen Augen auf, zu viele Dichter, die aus der Emigration zu uns zurückgekommen waren, starben in einem Jahrzehnt, fast alle an »gebrochenem Herzen«, altmodisch ausgedrückt: Dem jahrzehntelangen Druck hatten ihre Herzen standgehalten, der plötzlichen Befreiung von diesem Druck nicht. Die Prozessionen zum Dorotheenstädtischen Friedhof begannen. F. C. Weiskopf, Bertolt Brecht, Johannes R. Becher starben innerhalb von vier Jahren, sie wurden neben Fichte, Hegel, Schinkel, Rauch, Schadow gelegt, Bodo Uhse und Willi Bredel kamen bald dazu. Heute defilieren die Touristen in Scharen an diesen Gräbern vorbei, und an denen, die in den Jahrzehnten danach hier beerdigt wurden, Wieland Herzfelde, Helene Weigel, Anna Seghers, Hans Mayer, um bei dieser Generation zu bleiben. So viele Namen. So viele Geschichten. Wer wird sie erzählen? Wer würde sie nochhören wollen? Lustig würden sie nicht sein, diese Geschichten, und gewiß nicht ohne Fehl und Tadel. Irrtümer? O ja. Fehlgriffe? Auch die. Heldentaten? Auch das. Aber keine Heldengeschichten, sie selbst hätten sie nicht gewollt. Und als die »große Sache« vor ihren Augen zusammenbrach, reagierten sie jeder und jede auf seine oder ihre Weise: mit Verzweiflung, mit Abwehr, mit Depression, Wut und Schweigen, mit Leugnung der Tatsachen, mit Selbsttäuschung. Und mancher von ihnen mit Dogmatismus und Rechthaberei.
    Nach einer der aufwühlenden Versammlungen legte Willi Bredel dir den Arm um die Schulter: Na, um euch Junge müssen wir uns wohl jetzt auch ein bißchen mehr kümmern. Bei der nächsten Gelegenheit, als ihr zu einem Kongreß in Moskau wart, führte er dich durch das Moskau seiner Emigrantenzeit: Das hier ist das Hotel Lux, da haben wir alle gewohnt, in der schlimmen Zeit der Säuberungen haben wir uns abends gegenseitig angerufen, um zu hören, ob der andere noch da ist, und, wenn er sich meldete, schweigend aufgelegt. Und mancher der Genossen war eben nicht mehr »da«. – Und hier war die Lubljanka, die Zentrale des NKWD mit ihren vergitterten Fenstern, von hier aus wurden sie in die Lager verschickt, und von manchem hat man nie wieder etwas gehört. – Und als Ribbentrop und Molotow den Nichtangriffspakt zwischen Hitler-Deutschland und der Sowjetunion unterschrieben hatten, mußten wir Emigranten mit unserer antifaschistischen Propaganda in der Öffentlichkeit aufhören.
    Du versuchtest dir die Einsamkeit vorzustellen, in die sie gestoßen wurden. Und? fragtest du. Wie habt ihr das ausgehalten? – Wir hatten keine Alternative.
    Das sollte euch nicht passieren. Ihr damals Jungen hocktet beieinander, Stunden um Stunden, Nacht um Nacht. Eure Aufgabe würde es sein, dachtet ihr, Stalins Ungeist aus dem gesellschaftlichen Leben zu

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