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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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seien, müsse, um sich ihr lebenswichtiges Selbstbewußtsein zu erhalten, bestimmte Teile ihrer Geschichte ausblenden und sich möglichst viele Teile ihrer Gegenwart schön lügen. Aber eines Tages bricht alles zusammen, wenn man sich der Realität nicht stellt, sagte ich. Nun ja, sagte Peter Gutman. Früher oder später.

    Ein Wort geisterte in meinem Kopf herum, nicht zum ersten Mal, IRRGANG, ich dachte, dies wäre ein passender Titel für ein künftiges Schreibwerk, er würde mich radikal in die richtige Richtung leiten, nein: zwingen, und da war doch die Frage angebracht: Wollte ich das überhaupt? Konnte ich es wollen? Der Titel traf zu gut, er blieb einsam. Ein einsamer Titel, der seinen Text suchte. Ich wußte, er war vorhanden, dieser Text, mit unsichtbarer Tinte geschrieben, gegen unbefugten Zugriff präpariert. Die Schrift würde in einer bestimmten Beleuchtung hervortreten, dachte ich, die nicht zu grell und nicht zu milde sein durfte, sondern, noch scheute ich das Wort, gerecht sein sollte. Eines der ausrangierten Wörter, die wie Brocken aus einer Vorzeit dem glatten Strom unserer neuen Sprache im Wege sind.

    Valentina, die Italienerin, die nur für kurze Zeit hier Gast gewesen war, meldete sich, sehr willkommen. Ihr Aufenthaltging zu Ende. Sie kam, um Abschied zu nehmen. Sie sprühte vor Leben. Vor Liebe zum Leben. Sie war in einer Art von Entzücken auf mich zugekommen, die mich entwaffnet hatte. Wir gingen zu unserem Thai-Restaurant. Unterwegs stieß sie kleine Schreie aus vor jeder neuen Pflanze, die sie entdeckte. Sie empfinde es fast als Sünde, daß sie soviel Schönes sehen dürfe, sagte sie. C’est génial! konnte sie ausrufen. Was denn, Valentina? – La vita, sagte sie. La vie. Life. Das Leben. Und sofort befanden wir uns auf der nüchternen Third Street mitten in einem ganzen Kosmos von genialem Leben. Valentina war eine Zauberin, aber sie wußte es nicht. Wir aßen eine säuerliche Seafoodsuppe, die Valentina begeisterte. Ich hielt sie für einen in sich ruhenden Menschen, der sich nicht nur an anderen, auch an sich selber erfreute, aber nun wollte sie mir doch noch erzählen, wie schwer es ihr fiel, von anderen Menschen und deren Meinungen unabhängig zu werden, zum Beispiel von ihrem Mann, dem sie sich zu lange unterworfen habe, und sie stecke immer noch mitten in dem mühsamen Prozeß, sich von ihm zu trennen, und sie habe das so lange gescheut, daß sie darüber fast ihren Sohn verloren hätte, und nun habe ihr Mann einen schweren Unfall gehabt und sie müsse sich fragen, ob sie ihn jetzt überhaupt verlassen dürfe.
    Valentina? Unterdrückt? Schuldbewußt? Ich sagte ihr, das hätte ich nicht gedacht, und sie meinte, ich würde von mir auf andere schließen. Ach Valentina! Aber nun konnte ich ihr doch nicht auch noch diese Illusion nehmen.
    Ohne Übergang fragte sie mich: Was denkst du über den Tod. – Was meinst du, Valentina, fragte ich, um Zeit zu gewinnen. Ob der Tod wirklich das Ende von allem sei, wollte sie wissen. Ob ich das glaube. Ja, sagte ich, erinnere ich mich, leichtfertiger, als ich es heute sagen würde. Das glaube ich, aber es bekümmere mich nicht. Noch nicht, dachte ich damals, aus dem »Noch nicht« ist inzwischen ein »Jetzt« geworden.
    Da machte Valentina ihr geheimnisvolles Gesicht, wollte aber ausdrücklich gefragt werden, um ihr Credo bekanntgebenzu können. Der Körper sterbe, das schon. Er zerfalle in seine Moleküle und Atome und werde in den natürlichen Kreislauf der Materie zurückgenommen. Die Seele aber, der Geist, die Energie seien unzerstörbar und würden in irgendeiner Form erhalten bleiben. Der Tod habe keine Macht über sie. Ich sagte, nur wir, du und ich, wir als Personen sind dann nicht mehr dabei. Das gab Valentina zu. Aber vielleicht solle man sich nicht zu wichtig nehmen. Sie jedenfalls finde es von einem höheren Gesichtspunkt aus tröstlich, daß etwas erhalten bleibe und daß es nicht die feste Masse sei, diese plumpen undurchdringlichen Körper. Der lustige, quicklebendige Geist sei ihr viel lieber.
    Ich fand nichts mehr einzuwenden. Beim Abschied fragte ich Valentina, ob ich eigentlich sehr als Deutsche auf sie gewirkt hätte. Da sagte sie leider ja: Streng und zielstrebig und gründlich sei ich ihr vorgekommen, und das seien nun mal typisch deutsche Eigenschaften, nicht wahr. Und übrigens sei auch meine Frage, ob ich typisch deutsch wirke, typisch deutsch. Oder könne ich mir vorstellen, daß ein Italiener sich darüber Gedanken

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