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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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erschrockenes Gesicht.
    Ich wußte, solche Szenen hatte Lutz nicht erlebt, und selbst ihm würde ich sie nicht verständlich machen können.

    Doktor Kim ließ nicht nach, er fragte mich mit scheinheiligem Lächeln: Can you reduce eating, und ich sagte ja, zu allem, was Doktor Kim mir anempfahl, sagte ich ja, aber ich war nicht mehr wie am Anfang entschlossen, all seinen vernünftigen Empfehlungen zu folgen, ich wollte ihn los sein, ich wollte mich nicht einschränken, ich wollte leben, wie ich es gewöhnt war und wie es mir gefiel, und ich wollte ihm auch nichtsagen, was ich dachte und fühlte, aber dann kriegte er mich doch wieder mit der Frage, wie mein Verhältnis zu meiner Mutter gewesen sei: Did you love her? Wieder sagte ich ja, sie sei eine starke Frau gewesen, ich hätte sie geliebt. Doktor Kim, dunkles Gesicht unter schwarzem Haarbusch, blauer Yoga-Anzug, lächelte, als wüßte er sowieso alles, was ich ihm sagen könnte, stach mir seine Nadeln in Rücken, Hüften und Beine: Relax!, drehte das Licht aus und überließ mich dem Strom von Erinnerungen und Gedanken, der mich überflutete.
    Das Leben der Mutter. Eine starke Frau, die Stärkste in der Familie, die dir unbewußt die Botschaft sendete, es sei von Natur aus vorgesehen, daß die Frau die Dinge in die Hand nehmen und den Betrieb in Krisenzeiten lenken solle. Sie habe Bescheid zu wissen, wie der Hase lief, und das auch zu sagen. Weibliche Unterordnung ist dir nicht vorgeführt worden, dachte ich in meiner dunklen warmen Zelle. Wohl aber, daß Stärke Güte nicht ausschließt, die jedoch mit Strenge einhergeht, Strenge auch gegen sich selbst, nicht schwach werden, seine Schwachstellen niemandem offenbaren, Selbstbeherrschung wahren bis zur Selbstzerstörung. Den Tumor in der Brust, den sie entdeckt hat, vor jedermann geheim zu halten, bis das Familienfest vorbei war, das sie nicht stören wollte. Wie oft hast du dir das Wachstum des Tumors in jenen versäumten Wochen vorstellen müssen, als die Mutter dann im Krankenhaus lag, immer noch beherrscht. Als sie nach den Bestrahlungen einen fremden Geruch ausströmte. Als du, verstört und aufgeregt, ihr eines Tages sagtest, die Truppen der Warschauer-Pakt-Staaten hätten den Prager Frühling niedergeschlagen, erwiderte sie, die starb: Es gibt Wichtigeres. Dir war es wichtig, vielleicht zu wichtig, vielleicht war dir lange Zeit das wirklich Wichtige nicht wichtig genug. Ich war sehr müde, ich hörte Meeresrauschen, war ich am Meer?
    Did you sleep? Doktor Kim hatte das Licht angemacht, hatte ich geschlafen? Mein Gesicht war tränenüberströmt, wortlos reichte mir Doktor Kim ein Papiertaschentuch. Don’t worry,sagte er. Be careful. Während ich mich anzog, hörte ich, sehr fern, das Meeresrauschen. Ein Tonband. Ein Mittel von Doktor Kim, seine Patienten zu beruhigen.
    Ich fragte mich, ob man ein schlechtes Gewissen durch Meeresrauschen wegspülen kann.
    Ich ging. Mitten auf dem Wilshire Boulevard merkte ich, daß ich schmerzfrei war, gelobt sei Doktor Kim. Ich überquerte die Straße zu dem riesigen Drugstore, der mir schon lange in die Augen gestochen hatte und den ich endlich erkunden wollte. Genußvoll streifte ich an den kilometerlangen Regalreihen vorbei, angefüllt mit Dutzenden von Putzmitteln für jeden vorstellbaren Zweck, auch für unvorstellbare Zwecke, um unsere Badezimmer und Küchen und Treppenhäuser und Fußböden keimfrei zu machen und auf Hochglanz zu bringen. Ich schlenderte durch die engen Gassen, gesäumt von Parfums, Cremes, Seifen, Deodorants, Duschgels, Bein- und Körperlotionen, Shampoos, Haarfärbemitteln, wiederum zahllose Sorten, wer sollte sich mit all dem Zeug waschen, eincremen, parfümieren, wer sich mit all diesen Foundations, Lippenstiften und Mascaras verschönern. Ich dachte, der Inhalt der Fläschchen und Tiegel und Päckchen aller Drugstores reichte aus, die ganze Erde mit Seifenschaum zu überziehen und sie dann, gereinigt, mit Meerwasser gründlich abzuspülen und mit Cremes und Lotions partyfähig zu machen. Vielleicht würden die besonders zahlreichen Anti-Aging-Mittel die tiefen Falten unseres alten Planeten glätten, dachte ich. Aber nun kamen ja erst noch die Pflegemittel für unsere empfindlichen Möbel, die Waschmittel für unsere Kleider und Wäsche. Ich mußte daran denken, wie meiner Großmutter Persil und Essig, Ata, Kernseife und Schmierseife genügt hatten, um ihre Wäsche und ihren Haushalt sauberzuhalten, und meine Großmutter war eine reinliche Frau,

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