Stadt der Engel
sie wusch sich mit Palmolive-Seife und hatte in ihrem ganzen Leben nie ein Badezimmer. Ich sehe sie noch im Wrasen der Waschküche stehen, wie sie auf einem Brett die Wäsche der ganzen Familie rubbelt, während Großvater die Kochwäschein einem großen Kessel über dem Feuer stukt, mit einem altertümlichen Gerät, das es heute nicht mehr gibt.
Natürlich hatte ich meinem Gelenk zuviel zugemutet, ich stieg wieder in den Bus ein, der mußte warten, bis eine starke Motorradkavalkade mit jungen Fahrern in schwarzen Lederkombinationen vorbeigedonnert war, die schwarze Frau auf dem Sitz neben mir schüttelte mißbilligend den Kopf, was hieß eigentlich »Rücksicht« auf englisch, nein, Rücksicht nahmen diese Jungen auf ihren schweren Maschinen nicht, warum sollten sie ihre Stärke, ihre Überlegenheit allen anderen gegenüber nicht ausspielen.
Ich fuhr den schnurgeraden Wilshire Boulevard in Richtung Pazifik, berauschte mich wie jedesmal an dem Licht, das ich nie, niemals vergessen wollte und von dem ich mir doch nur noch einen schwachen Abglanz heraufrufen kann, und ich erinnerte mich an eine große Versammlung in einem der schönen neuen Kulturhäuser, die neben die großen Volkseigenen Betriebe gebaut wurden. Es mußte Anfang der sechziger Jahre gewesen sein, ein hoher Wirtschaftsfunktionär hatte eine Grundsatzrede gehalten und darin erwähnt, daß sich die Jugendlichen über den Mangel an Motorrädern beschwerten, und er hatte prophetisch ausgerufen, auch ihr würdet in gar nicht langer Zeit eure Jugend mit Motorrädern versorgen können, die in euren eigenen Betrieben gebaut sein würden. Du aber mußtest wieder mal schlau sein wollen, du mußtest dir einen Ruck geben, dich zu Wort melden und zum Rednerpult marschieren, um zu widersprechen: Dies könne doch euer Ziel nicht sein. Ihr könntet euch doch nicht vornehmen, die kapitalistischen Länder in der Produktion trivialer Konsumgüter einzuholen. Ihr müßtet euch doch auf andere Werte konzentrieren, die Bedürfnisse der Jugend doch auf wichtigere Ziele lenken. Ach, sagte der Redner, gutgelaunt, du habest wohl Angst vorm Motorradfahren? Unter dem Gelächter des Saals schlichst du an deinen Platz zurück.
Ich mußte an die Menschenmassen denken, meineLandsleute, die, wenige Tage nach der Maueröffnung und nachdem sie ihr Begrüßungsgeld abgeholt hatten, mit Tüten und Taschen und Kartons voller bisher unerreichbarer Waren bepackt, von ihrem ersten Westbesuch glücklich zurückkamen. Dies also war des Pudels Kern, aber was hatte ich denn gedacht.
Allmählich füllte sich die Lounge, einer nach dem anderen kamen sie herein, holten sich Tee, begannen mit ihren Nachbarn zu reden, sogar Peter Gutman war da, er versteckte seinen langen Schädel hinter der »Times« und nahm nicht an der allgemeinen Unterhaltung über Wahlprognosen teil, bis ich ihn direkt ansprach und ihn dazu brachte, seine Überzeugung zu äußern, daß es gleichgültig sei, wer gewinne, da sich an den Verhältnissen doch nichts ändern werde und da die meisten Leute auch überhaupt nicht wollten, daß sich etwas ändere: die Angehörigen der herrschenden und der besitzenden Schicht aus natürlichem Selbsterhaltungstrieb nicht, der bei ihnen gut entwickelt sei, und die anderen nicht, weil man es ja geschafft habe, ihnen einzureden, daß sie in der besten aller möglichen Welten lebten. Oder etwa nicht.
Dazu schwiegen wir, bis ausgerechnet Pintus, unser junger Schweizer, zögernd vorbrachte, ihm seien ja radikale Gedankengänge durchaus nicht fremd, er sei ja selbst einmal, in seiner Studentenzeit, Mitglied einer maoistischen Gruppe in Zürich gewesen, aber inzwischen habe er sich doch zu differenzierteren Ansichten durchgerungen. Zum Beispiel denke er, daß auch Nuancen von Veränderungen immerhin etwas bewirken könnten. Peter Gutman wendete sich ihm höflich zu und wollte wissen: Was. Nun ja, überlegte Pintus, dessen kurze Haarbürste immer zu Berge stand und der nur Jeansanzüge trug, jedenfalls kämen neue unverbrauchte Kräfte ins Spiel, die sich trauten, an den Privilegien der Vorhergehenden zu kratzen. Jüngere kritische Geister bekämen eine Chance, sagte er auf deutsch, mit seiner schweren Schweizer Lautfärbung. Ach ja? sagte Peter Gutman. Und wie lange hält das vor? Bis sie sich dieselben Privilegien angeeignet haben?
Einem die Lust an der Diskussion zu nehmen, das verstand er wirklich. Er kam auch nicht auf das Thema zurück, als wir zusammen zum ms. victoria gingen. Plötzlich
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