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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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ich, und es hatte doch so einfach ausgesehen, so folgerichtig, ja, eigentlich unausweichlich. Es gab sie doch, die menschenwürdige Gesellschaft, man mußte nur die Herrschaft des Eigentums an Produktionsmitteln abschaffen, jedermann mußte doch froh sein, nach seinen Fähigkeiten, nach seiner Einsicht und nach seiner Vernunft leben zu können. War dies nicht der uralte Menschheitstraum? Mir fiel ein, daß es ja hier gewesen war, an diesem von Grund auf fremden Ort, nur wenige Kilometer von diesem Raum entfernt, in dem ich in dem fremden Bett lag, wo Brecht in seinem schmucklosen Exilhaus seinen Galilei in den Konflikt zwischen Wahrheitsliebe und Kompromißbereitschaft gestellt hatte. Wie wir ihn kannten, diesen Konflikt! Gab es irgend etwas auf der Welt, das uns hätte bewegen oder zwingen können, abzuschwören? Die Inquisition? Da konnten wir doch bloß lachen.
    Endlich wirkte die Tablette, ich schlief ein. Ich war dann in einem meiner verwahrlosten Traumhäuser, diesmal in einem unordentlichen Hotel, ich stand auf einer Terrasse, umgeben von Einrichtungsstücken, die alle unbrauchbar waren. Ich begann aufzuräumen, allerhand wertloses Zeug schleppte ich von einer Ecke in die andere, es wurde nicht wohnlicher, nicht übersichtlicher. Hinter einer dicken Glasscheibe lag ein Rasenstück, ungepflegt, etwas verbrannt, dort wirtschaftete eine Frau herum, blaß, ausdruckslos, aschblondes Haar, nachlässig gekleidet. Sie kam näher heran, wendete mir ihr Gesicht zu, preßte es an die Glasscheibe und sagte, im Ton einer Weisung: Von der anderen Seite her anfangen! Im Aufwachen verstand ich den Traum: Ich sollte nicht immer von der Schuldseite her mit dem Aufräumen beginnen. Aber woher bekam diese wenig attraktive Traumfrau das Recht, mich darauf hinzuweisen? Ich lachte noch beim Frühstück.
    Es war Sonntag. Ich setzte mich an mein Maschinchen und schrieb:

    dieses schreibwerk schiebt sich vorwärts in mikroskopischen dosen, gegen einen widerstand, der sich mir entzieht, wenn ich ihn benennen will.

    Vielleicht ist es Zufall, daß mir jetzt eine Schlagzeile aus der Zeitung von heute einfällt: »Der hauchdünne Schleier über dem Barbarischen«, so hat der Rezensent eine Inszenierung des »Don Giovanni« empfunden. Und neulich mahnte ein Kommentator das Fernsehpublikum, aus den Ereignissen dieser Tage könne sich für uns alle beträchtliches Unheil entwickeln. Wir aber dächten, wenn bis jetzt keine Atombombe auf uns abgeworfen wurde, werde das auch in Zukunft so bleiben.
    Ein Schreck, der sich wiederholt, verliert an Stärke, sagte ich zu Peter Gutman, während wir die Ocean Park Promenade hinuntergingen. Erinnerst du dich, wie uns die Panik in die Glieder fuhr, als Anfang der achtziger Jahre zu beiden Seiten der deutsch-deutschen Grenze Atomraketen aufgestellt wurden? Und, sagte Peter Gutman, bei uns die Losung aufkam: Lieber rot als tot.
    Peter Gutman hatte mich zum Lunch in einem der guten Restaurants überredet. Da lagen sie wieder in der kalifornischen Sonne, die homeless people, einzeln oder in Gruppen, auf dem Rasen des Mittelstreifens zwischen den Fahrbahnen, manche auf wattierten Decken, aus denen die Füllung herausquoll, in tiefem bewußtlosen Schlaf, wir gingen an ihnen vorbei, als sähen wir sie nicht, versuchten, jenem zerlumpten männlichen Wrack auszuweichen, das sich immer hier aufhielt, in laute Gespräche mit sich selbst verwickelt war und manchmal ganz plötzlich aggressiv zu den Passanten wurde. Verstohlen beobachtete ich an den Obdachlosen die verschiedenen Grade des Verfalls und der Abstumpfung.
    Wir sprachen über das mögliche Ende unserer Zivilisation. Aber damals waren die Bomben noch nicht auf Bagdad gefallen. Die Türme in New York noch nicht zum Einsturz gebracht. »Nine eleven« war noch kein Schreckensdatum.
    God bless you, sagte der halbblinde schwarze Mann vor der Tür des Restaurants, in das wir hineingingen, nachdem wir unseren Zoll an ihn entrichtet hatten. Ich kann nur hoffen, sagte ich, daß es keinen Gott gibt und kein Jüngstes Gericht, denn segnen würde er keinen von uns satten gefühllosen Weißen, es sei denn, er wäre wirklich nur u n s e r Gott.
    Dieses Restaurant war bekannt für seine Austern. Wir bestellten trockenen kalifornischen Weißwein dazu.
    Peter Gutman hielt mir vor, ich würde mich immer wieder über das altbekannte Problem des »blinden Flecks« ereifern. Jede unserer modernen Gesellschaften, die auf Kolonisierung, Unterdrückung und Ausbeutung begründet

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