Stadt der Engel
machte, ob er typisch italienisch wirke? Wir lachten, wir umarmten uns heftig, wir konnten uns schwer voneinander trennen. Wir haben uns nicht wiedergesehen.
Ich erinnerte mich noch gut an die Zeit, in der ich viel darum gegeben hätte, nicht Deutsche sein zu müssen. Aber das ging uns doch allen so, sagte Lutz, der blonde Hamburger aus der Generation der Achtundsechziger, mit dem ich im Sekretariat zusammentraf. Er, der um so viel jünger war als ich – er kannte diese Scham, Deutscher zu sein? So wäre es eine Gemeinsamkeit der Ost- und Westdeutschen gewesen, daß sie nach dem Krieg keine Deutschen sein wollten? Ganz sicher, sagte Lutz. Anders wäre die Wut der damals jungen Generation gegen die Älteren kaum zu erklären.
Ich fragte mich und ihn, ob das denn eine Gemeinsamkeit sei, auf der sich aufbauen ließe. Übrigens: Was denn aufbauen. »Ein gesundes Nationalgefühl«, las ich in der Zeitung, die ich aus meinem Fach genommen hatte. Ich zeigte sie Lutz, derschnaubte durch die Nase: Wie denn aus zwei Volksteilen, von denen jeder ein schwaches Selbstbewußtsein auf je verschiedene Weise kompensiert habe – wie denn, wenn man die zusammenwerfe, ein »gesundes Nationalgefühl« herauskommen solle? Ob dann nicht jeder zwanghaft die Schuld für seine eigenen Defizite der anderen Seite zuschieben müsse? Um sich an den offensichtlichen Schwächen dieser anderen Seite weiden zu können? Und so dem eigenen angeknacksten Selbstbewußtsein Auftrieb zu geben? Wie es in dieser sogenannten Wiedervereinigung geschehe.
Wir waren es doch, wir Ostdeutschen, die nach dem Krieg zu den östlichen Völkern gehen mußten, zu denjenigen, die am meisten unter uns gelitten hatten, sagte ich.
Ich kann nicht vergessen, wie an der überreich bestückten Tafel in einem sowjetischen Kolchos, der für eine DDR-Delegation ein Gelage gab, zwischen ausschweifenden Trinksprüchen auf euer aller Gesundheit, Glück und Wohlergehen immer mal wieder, niemals anklagend, die Rede war von dem Sohn, der als Partisan von den Deutschen erschossen, dem Bruder, der im Krieg gefallen, der Nachbarsfamilie, die ausgerottet worden war. Und wie da der Leiter eurer Delegation, ein alter Kommunist, der seine Unbeugsamkeit im Klassenkampf der zwanziger Jahre erworben und in Zuchthaus und Illegalität bewiesen hatte und der inzwischen ein hochrangiger, unversöhnlich engstirniger Funktionär geworden war, wie der einen Weinkrampf bekam, als er auf die Trinksprüche der Russen erwidern wollte.
Und es war auch diese Szene, die es dir später schwermachte, seinen Zorn und seine Gegnerschaft zu ertragen, als es darum ging, ihm grundsätzlich und scharf zu widersprechen. Deine kleinbürgerliche Herkunft habe dich eingeholt, konnte er dich anschreien, an die Stelle des Klassenstandpunkts sei bei dir Humanitätsduselei getreten, er habe sich bitter in dir getäuscht, du sollest keine Nachsicht von ihm erwarten. Da dachtest du an seine Zeit als Widerstandskämpfer und an deine eigene Zeit in der Hitlerjugend und wünschtest sehr, eure gegensätzlichenStandpunkte über das, was »uns« nützte, hätten euch nicht immer weiter auseinandergetrieben. Da standest du ihm in seinem riesigen Dienstzimmer gegenüber, in das du mit einem Passierschein und nach gründlicher Kontrolle durch bewaffnete Posten gelangt warst, die dich mit wachsamen Augen bis zum Paternoster verfolgten und deren ebenfalls bewaffnete Genossen im oberen Stockwerk schon auf dich warteten, um nochmals deinen Ausweis mit dem Passierschein zu vergleichen und dir dann den Weg durch endlose menschenleere Flure und eine Reihe von Vorzimmern zu weisen, die ihre Wirkung auf dich nicht verfehlten. Wozu brauchten sie das, woher diese Angst, diese Paranoia vor einem Volk, das ihnen soviel angetan hatte und dessen kleineren Teil sie nun regierten. Regieren mußten, ohne ihr Mißtrauen gegen dieses Volk je loszuwerden. Eine kalte Angst überkam dich, du hättest sie noch nicht in Worte fassen können.
Damals ging es um ein Buch, das du geschrieben hattest und dessen Erscheinen der hochgestellte Genosse verhindern wollte, weil er es für schädlich hielt. Dir lag an diesem Buch, es war der Test, ob du in diesem Land weiter leben konntest oder nicht. Da schrie er dich an. Daß es um Grundsätzliches ging, wußtet ihr beide. Dann wurde sein Ton kalt, und dein Ton wurde verzweifelt. Ihr verabschiedetet euch unversöhnt, auf dem langen Weg zur Tür kipptest du um, und als du zu dir kamst, war über dir sein
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