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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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dagegen zu wehren, und nahm diese Rolle an.
    Der Kaffee wurde herumgereicht, Willy und der andere riesige, gut erzogene Hund wurden hereingelassen und spazierten zwischen den Gästen herum. Man ging zu Anekdoten über, von denen Gottfried einen unerschöpflichen Vorrat hatte. Im Krieg hatte er als Sergeant bei einer Propagandaeinheit der Army gedient und war dazu ausersehen worden, Albert Einstein zur Teilnahme an einem Antikriegsfilm zu gewinnen. So gutwillig der große Physiker war, seine Aussprache war gräßlich, zumBeispiel konnte er das englische Wörtchen »such« immer nur wie »sutsch« aussprechen, auch daran scheiterte schließlich das Projekt, aber Gottfried war seitdem ein inniger Verehrer dieses Mannes. Einen Menschen wie ihn habe er nie vorher und nie nachher getroffen. Man kenne ihn nicht. Man bewundere immer seine Bescheidenheit, aber das sei Unsinn: Bescheiden sei Einstein nie gewesen. Er war einfach seiner Sache sicher. Das habe er ihm selbst gesagt. Er benötige für seine Arbeit nur Papier und Bleistift, dann rechne er, und wenn eine Gleichung aufgehe, dann habe er recht gehabt und brauche keine weitere Zustimmung oder Bestätigung, und wenn nicht, dann eben nicht.
    Einmal habe Einstein ihm die Relativitätstheorie erklärt, sagte Gottfried, das war, als er ihn im Auto nach Princeton zurückbrachte. Er solle sich vorstellen, hatte er ihm gesagt, er wäre in einem geschlossenen Karton ohne Fenster, der bekäme plötzlich einen Schubs, so daß er, der Insitzende, gegen eine der Seiten gedrückt würde, dann könnte er aus Gewohnheit denken, das hätte die Schwerkraft bewirkt, aber es wäre gar nicht die Schwerkraft gewesen, sondern die Fliehkraft. So ungefähr, sagte Gottfried gerührt, und damals, im Auto auf dem Weg nach Princeton, habe er das verstanden. Oder habe geglaubt, es zu verstehen, weil Einstein ganz fest davon ausging, daß jeder es verstehen würde. Und wir, die wir da um den Tisch saßen, glaubten auch alle einen Moment lang, das zu verstehen.
    Henry fragte Ted, den Germanisten, der wie ich die meiste Zeit geschwiegen hatte, welches Thema er eigentlich gerade am Wickel habe. Wir würden wohl lachen, sagte der. Er arbeite mit einer Gruppe von Studenten über bestimmte Aspekte der Literatur in der DDR. Sehr praktisch, sagte Henry. Ein abgeschlossenes Forschungsgebiet. – Ja. Entgegen der massiven öffentlichen Meinung sei dies, sagte Ted, genau der richtige Moment dafür. Was die westdeutsche Öffentlichkeit jetzt mit der DDR-Kultur und ihren Vertretern mache, könne man doch eigentlich nur aus dem Bedürfnis erklären, nachzuholen, was man bei derAbrechnung mit der Nazi-Kultur versäumt habe. Jedenfalls sei die Voraussetzung für diese Kampagne das Gleichheitszeichen, das man zwischen Faschismus und Kommunismus setze. Doch gerade an der Literatur, meinte Ted, lasse sich ja beweisen, wie abwegig dieses Gleichheitszeichen sei. Marja gab ihm recht und nannte Beispiele, Namen, Titel. Als das Stichwort »Brecht« fiel, fragte ich, ob der eigentlich, vergraben in seine Arbeit, okkupiert von der Sorge um Deutschland, vertieft in Diskussionen mit Mitarbeitern, mit Schauspielern, die seinen »Galilei« aufführen würden – ob also Brecht seine Asylstadt Los Angeles überhaupt zur Kenntnis genommen habe.
    Da brauchte Henry nur an sein Bücherregal zu gehen, einen Band herauszuziehen, eine Seite aufzuschlagen. »Landschaft des Exils.« Henry las:

    Die Öltürme und dürstenden Gärten von Los Angeles
    Und die abendlichen Schluchten Kaliforniens und die Obstmärkte
    Ließen den Boten des Unglücks
    Nicht kalt.

    Nun, immerhin, dachte ich. Nicht kalt.
    In dem Augenblick wendeten wir uns alle der Frau des polnischen Essayisten zu, die einen Schmerzenslaut ausgestoßen hatte. Man umringte sie: Gehe es ihr nicht gut? Nein, es ging ihr nicht gut, die Rede war von einem Krampf. Sie bekam Tropfen eingeflößt und mußte schnell nach Hause gebracht werden. Das war das Zeichen zum überstürzten Aufbruch für alle. Henry, der mich ins ms. victoria fuhr, entschuldigte sich für den jähen Abbruch des Abends. Für mich war der Abend lang genug gewesen.
    Ich schlief nicht ein. Ich lag in meinem überbreiten Bett und konnte es nicht verhindern, daß die vier Zeilen, die in meinem Kopf hängengeblieben waren, andere Zeilen aus meinem Gedächtnis heraufzogen. Er ist vernünftig, jeder versteht ihn …,du kannst ihn begreifen. Er ist gut für dich, erkundige dich nach ihm. – Das taten wir, Brecht, dachte

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