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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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sprach er davon, wie ängstlich er darauf geachtet hatte, daß ihm in der Schule nur kein deutsches Wort entwischte, obwohl er zu Hause mit seiner Mutter deutsch sprach, übrigens die einzige in der Familie, die sich manchmal etwas wie Heimweh anmerken ließ.
    Und was hat das mit den Wahlergebnissen zu tun? fragte ich, während wir, an den drei wachsamen Racoons vorbei, ins ms. victoria gingen, Herrn Enrico zuwinkten, der überaus erfreut war, uns zu sehen. Denk mal drüber nach, sagte Peter Gutman, während wir die Treppe hochstiegen. Er verabschiedete sich vor meiner Tür, nein, heute keinen Drink. Er schien sehr müde zu sein, und ich verspürte den Anflug eines schlechten Gewissens, ohne zu verstehen, warum.
    Die Enterprise stieß wieder mal in unbekannte Universa vor, ich verstand nicht, warum ich das nicht so genießen konnte wie sonst. Nach zwei Stunden rief Peter Gutman an. Mir kam es vor, als habe auch er ein Gläschen getrunken. Störe ich? – Nein. Er sagte: Was meinen wir eigentlich mit unseren »westlichen Werten«, für die andere Kulturen uns bewundern und respektieren sollen? Ich schwieg überrumpelt. Peter Gutman sagte: Darüber denken Sie mal nach, Madame. Darüber wollte ich an diesem Abend durchaus nicht nachdenken.

    Der nächste trübe Tag war ein Sonntag, der Fernsehprediger rief, nein schrie in seine riesige Gemeinde hinein: Your sins are forgiven!, und die Gemeinde stöhnte auf, vereinzelte Rufe: Yeah! O Lord!, der Prediger schritt wie ein Dompteur an der ersten Reihe vorbei, er trug einen kleidsamen violetten Phantasietalar, der hinter ihm herwallte, und jetzt fragte er die Gemeinde, welches wohl das größere Wunder sei: Wenn Jesus dem Gelähmten sage: Stehe auf und wandle!, oder wenn er uns allen sage: Eure Sünden sind euch vergeben! Nun kam der berühmte Prediger den Mittelgang herab, auf die Kamera zu, spracheinzelne Gläubige an, eine schwarze Frau: Was denkst du, Schwester!, einen gut gekleideten Weißen: Und du, Bruder – ja, darüber hast du noch nicht nachgedacht!, und sie alle spürten mit jeder Faser, auch ich spürte, was nun kommen mußte, alle fieberten sie dem erlösenden Wort entgegen, das sie hören, von ihm hören wollten, denn nur er, der berufene Prediger in seinem farbigen Talar, der jetzt wieder vorne stand, erhöht auf den Stufen, neben einem riesigen Busch gelber Blütenzweige – nur er konnte dieses Wort aussprechen. Und endlich hob er in einer wohleinstudierten Bewegung die Bibel gen Himmel und rief: Gott ist mein Zeuge! Nichts Wunderbareres gibt es unter der Sonne als die Vergebung der Sünden!
    Yeah! rief die ergriffene Gemeinde aus einem Mund, Tränen überströmten die Gesichter, Beifall brandete auf, das Ritual hatte gewirkt, die Reinigung hatte stattgefunden. Sonntag vormittags sind die Straßen der amerikanischen Städte voller geläuterter Menschen in ihren lautlos dahingleitenden übergroßen Wagen, aber die eigentlichen Tempel, die Kaufhäuser und Supermärkte, schließen nicht eine Minute, als müsse man fürchten, wenn der Konsum auch nur für eine Sekunde unterbrochen würde, der Kreislauf von Geld zu Ware zu Geld für allerkürzeste Zeit zum Erliegen käme, dann würde der Organismus, der sich Gesellschaft nennt und am Tropf hängt, an seinen Entzugserscheinungen unverzüglich kollabieren.
    Ich setzte mich an mein Maschinchen und schrieb:

    die suche nach dem paradies hat überall zur installation der hölle geführt. waltet da ein unumstössliches gesetz? dem wäre nachzugehen. auch wäre zu bedenken, warum der hier verbreitete glaube, dass es für jedes problem eine lösung, für jedes übel eine abhilfe, für jeden schmerz eine linderung und für jede krankheit eine heilung gibt, ein gefühl von unwirklichkeit, ja unheimlichkeit erzeugt und leicht in irrsinn umkippen kann.

    Ich griff nach der roten Mappe mit den Briefen von L. Mir fiel auf, daß ich immer nach dieser Mappe griff, wenn ich Trost brauchte. Die Briefe sind nicht in gleichmäßigem zeitlichen Abstand geschrieben, der dritte Brief ist erst auf den Juni 1948 datiert. Er ist einer der ausführlicheren Briefe, offenbar antwortet er auf Fragen und Meinungen, die Emma an ihre alte Freundin gerichtet hatte. L. schreibt, es verwundere sie nicht, wenn sie und Emma sich wieder einmal über die gleichen Probleme den Kopf zerbrächen, das sei ja schon früher so gewesen.

    »Deine Zuchthauserfahrung und meine Exilerfahrung sind gewiß kaum miteinander zu vergleichen. In einem Punkt mindestens

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