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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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die ihr inzwischen gemeinsam gelesen habt –, geliehen für wenige Tage, ihr verschlangt es, vergaßt, es einzuordnen, war es fortschrittlich oder etwa doch ein wenig reaktionär, es war tiefer Winter, spät abends gingt ihr durch eiskalte, schlecht beleuchtete Straßen, über die Saalebrücke, wo der Wind euch ins Gesicht pfiff, über der Hügelkette vor euch stand der Mond, ihr traft kaum noch Menschen, ihr redetet über Remarque.
    Ich saß in meinem Apartment im ms. victoria , im Fernsehen lief ein Film über zwei beeindruckende Frauen, die sich der Forschung an Schimpansen und Gorillas verschrieben hatten, ich folgte ihren geduldigen Annäherungsversuchen an eine Affenhorde, eine andere Gedankenspur führte mich in andere Seminarräume, in denen vor vierzig Jahren eure Dozentin, die als Kommunistin und Jüdin in den dreißiger Jahren Deutschland hatte verlassen müssen und dorthin, zu euch, zurückgekehrt war, mit euch über jene Sturm und Drang genannte Bewegung arbeitete, so lebendig, so überzeugend, daß ich es nie vergaß, eine antifeudalistische frühbürgerliche Bewegung, ihr identifiziertet euch mit den Jungen damals, die sich abstießenvon den Zwängen des Absolutismus. Ihre Fahnenwörter waren Natur! Freiheit!, mit List wehrten sie sich gegen die Zensur, der junge Goethe zum Beispiel ließ seinen »Prometheus« so in sein Gedichtbuch einbinden, daß man dieses Gedicht, falls die Zensur es beanstanden sollte, herauslösen konnte, ohne das ganze Buch zu beschädigen, Ich kenne nichts ärmers unter der Sonn als euch Götter – ha, der Atheist, ha, der Fürstenhasser, dieser Goethe war euer, und eure Blütenträume würden reifen. Ja, sagte eure Dozentin, die du verehrtest, ein Revolutionär war er vielleicht nicht, unser Goethe, doch hat er, das sagt er selbst, das eine Ende der Stange immer leise berührt. Ihr aber in euren fortschrittlichen Zeiten hieltet die Stange fest in beiden Händen und würdet sie nicht mehr loslassen.
    Diese Dozentin, die euch den Blick dafür geöffnet hatte, daß noch das zarteste Liebesgedicht eingebettet ist in ein gesellschaftliches Gewebe, hat dreißig Jahre später, alt geworden, in einer anderen Stadt lehrend, ihre Studenten veranlaßt, eine Resolution zu verfassen, in der du des ideologischen Kapitulantentums bezichtigt wurdest. Es war dir nicht gleichgültig wie manches andere.
    Die beiden Forscherinnen, die sich auf entgegengesetzten Seiten der Erde mit dem Verhalten von Schimpansen und Gorillas vertraut machen, werden von den verschiedenen Affengruppen nach langer Zeit so weit geduldet, daß sie ganz nah an sie herangehen können, ohne Flucht- oder Aggressionsreflexe auszulösen, mit Anteilnahme, fast mit Neid, sah ich ihnen zu.
    Auf der anderen Gedankenspur, die unaufhaltsam weiterlief, erschien die Ausstellung im Weimarer Schloß, »Gesellschaft und Kultur der Goethezeit«, durch die du in den Semesterferien Gruppen von Besuchern führtest. Ich sah euch in der Versammlung sitzen, hörte den Referenten, der sagte, der Klassenkampf verschärfe sich, ihr müßtet euch auf kritische Situationen vorbereiten. So sehr wir den Krieg haßten, sagte er, Pazifismus sei heutzutage geradezu selbstmörderisch, eure Bereitschaft, die Republik zu verteidigen, dürfe kein Lippenbekenntnis bleiben,kurz und gut: Ihr solltet schießen lernen. Es wurde auf einmal ganz still in dem Raum.
    Nachts gingst du mit einer Genossin den Berg hinauf zum Nietzsche-Haus, in dem ihr wohntet. Sie sagte: Ich habe nie ein Gewehr in die Hand nehmen wollen, und vor deinen Augen tauchten die Berge von Gewehren auf, die die besiegten Soldaten der deutschen Wehrmacht im April 1945 in die Straßengräben geworfen hatten, an denen euer Flüchtlingstreck vorbeizog, ihr rührtet keines der Gewehre an, aber die KZler, die auf dem Todesmarsch vom Lager Sachsenhausen teilweise auf den gleichen Straßen nach Norden getrieben worden waren, die nahmen sich Gewehre, die sie vor Schwäche kaum halten konnten, und bezogen Posten auf der Anhöhe des Hohlwegs, durch den ihr kamt.
    Dem Versammlungsleiter sagtest du: Ich habe ein Kind. Er sagte: Ich weiß. Überleg dir, ob du es nicht verteidigen willst. Du riefst bei deiner Mutter an, du mußtest die Stimme deines Kindes hören, das noch nicht sprechen konnte. Nachts schliefst du kaum. Am nächsten Tag sagtet ihr alle zu dem Leiter: Ja, ihr würdet an Schießübungen teilnehmen. Ich erinnere mich nicht, daß ihr je dazu aufgefordert wurdet. Es war das Jahr 1953. Du warst

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