Stadt der Engel
vierundzwanzig Jahre alt.
Die uralten, menschlich anmutenden Gesten der Affen rührten mich, gebannt verfolgte ich auf dem Bildschirm, wie »Melissa«, eine allein streunende Äffin mit Kind, Anschluß an die Gruppe suchte, wie sie Unterwürfigkeits- und Demutsgesten vollführte, die uns, dachte ich, nur allzu bekannt sind, wie sie den Rangältesten, das Alphatier, nachdem sie längere Zeit still beieinander gesessen hatten, vorsichtig an der Schulter berührte, schließlich nach seiner Hand griff und sie mehrmals an den Mund führte, »küßte«, wie sie dann unendlich geduldig auch die Akzeptanz der Frauengruppe suchte, bis sie, da war ich bewegt und erleichtert, am Ende mit ihrem Kind auf dem Schoß friedlich zwischen den anderen hockte.
Ich rief Peter Gutman an, ich mußte ihn fragen, ob ergewußt habe, daß Affen küssen können, er sagte, nein, das habe er nicht gewußt. Was er aber wisse, sei, daß er das Küssen immer mehr verlerne. Oder ob ich glaubte, Telefonküsse könnten echte Küsse ersetzen.
Nein, sagte ich, das glaubte ich allerdings nicht, und Peter Gutman freute sich, daß wir uns darin einig waren. Ersatzleben, sagte er. Das soll uns doch allen aufgenötigt werden. Ersatz bis in unser Intimleben hinein.
Monsieur, rief ich, hallo, versteigen Sie sich nicht. Oder meinen Sie etwa, auf dem langen Weg vom Affen bis zum Homo sapiens sei das Original verlorengegangen? Das Original des Lebens? Der Liebe?
Könnte man manchmal denken, sagte Peter Gutman. Zum Beispiel: Wer garantiert mir denn, daß ich mit dieser wunderbaren Frau, mit der ich stundenlang über den Ozean hin sehnsüchtig telefoniere, überhaupt etwas anzufangen wüßte, wenn sie mir plötzlich erreichbar wäre? Kann es nicht sein, daß ich diese absurde Situation, dieses absurde Leiden daran, daß wir nicht zusammenkommen können, brauche, um sie mir vom Leib zu halten? So wie ich meinen Perfektionismuswahn brauche, damit er mich hindert, das Buch über meinen Philosophen fertigzuschreiben.
Das ist aber ziemlich sophisticated, Monsieur, sagte ich, und dachte: Worüber reden wir da.
Sophisticated? Peter Gutman seufzte und gab es zu. Sonst spreche ich ja nicht darüber, sagte er, und ich fragte: Warum mit mir?
Weil du selbst unglücklich bist und Unglück verstehst.
Unglücklich, ich? Aber wie kommst du darauf. Ich habe doch gar nichts davon gesagt.
Eben, sagte Peter Gutman. Hast du was zu trinken da? Okay. Schlaf gut.
Ich schaltete den Fernseher aus, dann auch die Lampe, ich saß im Dunkeln und hörte das ms. victoria atmen. Nach langer Zeit ging ich in die Küche und holte mir noch eineMargarita, die nahm ich mit und stellte sie auf dem schmalen Brett neben dem Telefon ab, ersparte es mir, die Zeitdifferenz auszurechnen, weil ich jetzt nichts dringlicher brauchte, als diese Stimme zu hören, wählte also die vertraute Berliner Nummer. Natürlich hörte der Teilnehmer nicht gleich, er schlief ja gerade, ich ließ es lange klingeln, bis ich sein schlaftrunkenes »Hallo?« hörte. Da beschwerte ich mich, daß er es nie lernen würde, sich mit seinem Namen zu melden, und er fragte, ob ich eigentlich wisse, wie spät es bei ihm sei, und ich sagte, nein, das wisse ich nicht. Halb sechs Uhr früh, sagte er, und ich sagte, ach so, ich würde jetzt gleich ins Bett gehen. Wir schwiegen, der Ozean rauschte, dann fragte er: Ist was?, und ich sagte: Nein. Was soll sein. Hörst du den Ozean rauschen? Wußtest du, daß das ms. victoria nachts atmet und sich wie ein Schiff auf den Wellen wiegt? – Wußte ich nicht, sagte er. Aber grüß mal dein ms. victoria , es soll auf dich aufpassen. Ich fragte, meinst du, das wird nötig sein, und er sagte, man könne nie wissen. Nein, sagte ich, das könne man nicht. Wir legten auf. Es ging mir besser.
Ich stand spät auf, es war ja Wochenende, ich machte mir ein ausgiebiges Frühstück, was sang ich dabei, unbewußt? Ich hatte gelernt, darauf zu achten, ich sang: »Ich hatt’ einen Kameraden«, die Fassung der Interbrigaden im Spanischen Bürgerkrieg, nachdem Hans Beimler gefallen war: Eine Kugel kam geflogen, sie kam aus Deutschland her, der Lauf war gut gezogen, das Korn hat nicht getrogen, ein deutsches Schießgewehr. Früher waren mir bei diesem Text manchmal die Tränen gekommen, das war in den naiven Zeiten, als man noch an Märchen glaubte. Ein Freund, selbst Spanienkämpfer, der vor kurzem Einblick in geheime spanische Militärarchive erhalten hatte, sagte mir, die Version vom Tod Hans Beimlers
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