Stadt der Engel
gestiegen, so daß Präsident Bush vor der Nation ausrufen konnte: The recession is over! Die lokalen Medien hielten dagegen: In Kalifornien sei die Rezession in voller Blüte, es gebe hohe Arbeitslosenzahlen, einige Industrien, die bisher hauptsächlich für die Rüstung gearbeitet hätten, seien am Zusammenbrechen. Na klar, sagte Lutz, der ebensoviel von Politik wie von Kunstgeschichte verstand, niemand habe irgendein Konzept gehabt für das von niemandem vorhergesehene Ende der Konfrontation zwischen den beiden Blöcken. Keiner habe das wirklich gewollt. Er las uns einen Kommentar aus einer deutschen Zeitung vor, der den Beweis führte, was für ein Segen der Kalte Krieg auch für die demokratisch verfaßten Gesellschaften gewesen sei – er habe viele Industrien auf Hochtouren gepuscht und zugleich durch das harsche Festhalten an Feindbildern die Gültigkeit demokratischer Spielregeln eingeschränkt und das ungebremste krebsartige Wuchern der Geheimdienste ermöglicht. Würden die modernen Gesellschaften das Zusammenbrechen des Feindes, also das Schwinden der Feindbilder, verkraften? Ohne neue Feindbilder, neue Ziele für Aggression und Rüstungen aufzubauen?
Die Wahlchancen für Clinton sollten sich über Nacht verschlechtert haben.
Die Landschaft der Erinnerung ist ausgebreitet, denke ich, der Gedankenstrahl tastet sie ab. Ich stoße in meinen Aufzeichnungen auf die Sätze der Nonne aus dem Buch, das Sally mir mitgegeben hatte:
ich habe den wert von jedermanns weisheit und die tatsache, dass die menschen dieselbe wahrheit auf vielen strassen entdecken können, zu verstehen begonnen. öffne deinen geist, so dass du nicht mehr in eigensucht gefangen bist. dann wirst du dich nicht mehr für das zentrum der welt halten, weil du so beschäftigt bist mit deinen leiden, schmerzen, grenzen, begierden und ängsten, dass du blind bist für die schönheit des lebens. du wirst sehen, das leben ist ein solches wunder, und wir verbringen soviel zeit damit, herauszufinden, wo es uns unrecht tut.
Daß Doktor Kim in dasselbe Horn wie die Nonne blies, verwunderte mich nicht. Als ich ihm sagte, daß die Schmerzen in der letzten Woche ziemlich schlimm gewesen seien, erklärte er ungerührt: That depends on what you eat, und verbot mir auch noch die Süßigkeiten. Was ich denn überhaupt noch essen solle? Reis und Gemüse. Aha. Ich war sicher, er selbst richtete sich nach seinen Anweisungen. Was ich ihm nicht sagte: daß ich Schmerztabletten nahm. Er riet, mir ein möglichst genaues Bild vom Zustand meiner Hüften zu machen und die abgenutzten Knorpelteile mit einer wohltuenden Flut heilender Gedanken zu umgeben. Er spickte mich mit seinen Nadeln und behauptete: I will rebuild your hip. Das konnte ich nicht glauben, ich hatte ein schlechtes Gewissen dabei und sah ein, daß für eine Ungläubige seine Voraussage nicht gelten konnte. Er ermahnte mich noch, nicht soviel Brot zu essen, und ließ mir von einem Gehilfen eine Tüte voller merkwürdiger Ingredienzienabwiegen, zu denen außer Blättern und Kräutern und Knollen offenbar auch Knochen gehörten, die ich jeden Morgen sehr lange kochen mußte, was mein Apartment in eine übelriechende Behausung verwandelte und einen Sud ergab, den ich trinken sollte und mit zugehaltener Nase auch trank, der aber nicht helfen konnte, dachte ich, wenn ich ihn verabscheute. Ich wußte, daß Doktor Kim jede Woche einen Tag fastete und auch sonst sehr mäßig aß, und ich dachte, wieder im Bus, wie mußte er uns zügellos unseren Begierden ausgelieferte Bewohner der westlichen Welt verachten.
Es ging auf das Jahresende zu, um fünf wurde es schon dunkel, ich stieg noch einmal aus dem Bus, um im Fahrradladen eines der als sicher geltenden Bügelschlösser für mein neues Fahrrad zu kaufen, das ich für hundertsechs Dollar bei Woolworth erstanden hatte, da das alte, von Bill geerbte, aus der Garage heraus gestohlen worden war, zusammen mit zwei anderen Rädern, die dort, angeschlossen natürlich, abgestellt waren. Die müssen doch mit einem Laster vorgefahren sein! – Ja, sagte die junge schmucke Polizistin, die im office erschien, um ein detailliertes Protokoll aufzunehmen, das sei wahrscheinlich, es seien organisierte Gangs, die die Fahrräder in Windeseile umrüsteten und weiterverkauften, jeden Tag gebe es mindestens zwanzig Verlustmeldungen allein in Santa Monica. Und die Aussicht, das Rad wiederzubekommen? Da zuckte sie die Achseln. Die sei gleich null, besonders, wenn der Bestohlene
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