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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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gut, Madame.

    Von heute aus gesehen, scheint es mir, daß die Zeit vor der Jahreswende von 1992 auf 1993 sich dehnte, weil so viel Neues, was ich zu sehen, zu hören, zu bedenken bekam, in jene wenigen Monate fiel. Auch viele neue Gesichter drängten sich ja in diese kurze Zeit. Manche tauchten einmal auf, mit einer Information, einer Frage, einer Botschaft, einer Nachricht, und traten dann wieder zurück, andere wurden »Bekannte«, ein Wort, das es im Amerikanischen nicht gibt, sehr schnell werden Bekannte zu Freunden, in einem etwas anderen Sinn als im Deutschen. Bob Rice zum Beispiel, der Architekturhistoriker, muß jetzt endlich auftauchen.
    Es ging auf Weihnachten zu, große Hitze herrschte, die Christmas-Psychose war im vollen Gange, obwohl von »Christmas« keine Rede sein sollte, um die nicht-christlichen Religionen nicht zu beleidigen, man wünschte einander »Happy Holidays«. Die Straßen erstrahlten im Lichterglanz kunstvoller Dekorationen, überall Massen von Weihnachtsbäumen, oft zu exakten Pyramiden geschnitten, in der Halle des CENTER empfing uns ein riesiger Tannenbaum, reich geschmückt, im Fahrstuhl fuhr man zu der Melodie »Es ist ein Ros’ entsprungen«, und Mrs. Ascott hatte in die Lobby unseres lieben ms. victoria zu einer Christbaumschmückparty eingeladen, bei der Peter Gutman und ich uns einig wurden, daß sie, Mrs.Ascott, die perfekte Lady für einen skurrilen Krimi abgeben würde.
    Häuser, Neutra-Häuser! gab Bob Rice, unser Architekturführer, als Losung aus. Er wußte alles über den berühmten Architekten, der in den zwanziger Jahren von Deutschland nach Amerika ausgewandert war. Francesco und Ines zwängten sich hinten in Bobs winzigen HONDA, der Witterung aufnahm und wie von selbst jeweils das nächste Ziel ansteuerte, kreuz und quer durch die Mega-Stadt, auf Freeways, Boulevards und auf steinigen steilen Straßen, den Canyon hoch, wo das »grandmother’s house« lag, oben auf der äußersten Spitze, ein winziges Häuschen, gebaut von Richard Neutra als Gästewohnung für die Mutter der Familie, die weiter unten am Hang wohnte, ein zwiespältiger Erfolg, denn die Großmutter fühlte sich so wohl in dem Häuschen, daß sie als Dauergast blieb. Die alte Lady, die jetzt darin lebte, kannte die Geschichte, sie zeigte uns den überwältigenden Rundblick über die Stadt.
    So ging es uns überall, wir hatten überall Zutritt, jeder der Bewohner kannte Bob. In einem der Häuser, einst für eine berühmte Schauspielerin gebaut, lag eine Frau oben krank, wir durften trotzdem im Erdgeschoß herumgehen, die großen hellen Räume, ihre Maße, ihre Anordnung zueinander besichtigen. So mußte man wohnen.
    Es schien uns natürlich, daß Neutra nicht nur eine neue Bauweise, auch eine neue Lebensweise ausprobieren wollte. Bob fuhr uns zum Schindler-Haus, gebaut von dem anderen großen Emigranten-Architekten, der in dieser gesichtslosen Stadt seine unverwechselbare Spur hinterlassen hatte. Hier also hatten die Neutras zusammen mit den Schindlers gewohnt. Ein Haus im japanischen Stil, sehr niedrig, flach, mit verschiebbaren Wänden und zahlreichen Ausgängen nach draußen, ins Freie, Helle, wo man, wie wir erfuhren, auch das ganze Jahr über schlafen konnte. Wir standen auf dem flachen Dach, Bob holte aus seinem Ledertäschchen eine Flasche Rotwein, sechs silberne Becherchen und ein Büchschen gesalzene Erdnüsse hervor, hier,gerade hier wollte er mit uns anstoßen, er hatte einen Sinn für symbolische Gesten.
    Mindestens ein Haus müßten wir noch sehen, sagte er, es liege am Rand von Koreatown, also dem Viertel, in dem bei den riots im April die meisten Geschäfte in Brand gesteckt worden seien, von Schwarzen, die sich durch den schnellen sozialen Aufstieg der Asiaten benachteiligt gefühlt hätten. Das Haus, das Bob uns dann zeigte, habe Neutra in den dreißiger Jahren als Modell eines Wohnhauses für sozial bedürftige Familien gebaut. Hier könnten wir nicht hineingehen, hier wohnten heute arme Leute, zumeist Hispanics. Fünfstöckig, gleichmäßige Fensterreihen, halb zugezogene Vorhänge, Flaschen auf den Fensterbrettern, Kinder- und Frauenköpfe, die hervorlugten, Wäsche über die Fensterbänke gelegt. In der Nachbarschaft, gegenüber, kleine Familienhäuser, auch arm, arbeitslose Männer mit Strohhüten in Gruppen vor den Eingängen. Sie beobachteten uns schweigend. In diesem Klima hier, meinte Bob, wirkten selbst Slums nicht so trostlos wie in New York oder Detroit.
    Francesco und Ines

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