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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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würde so, wie sie in unseren Geschichtsbüchern stand, auch nicht stimmen. Glücklich das Land, das keine Helden braucht . Übrigens, fiel mir ein, gab es seit Spanien in der deutschen kommunistischen Bewegung keine Lieder mehr. Mit scharfen Instrumenten war ihr die Seele aus dem Leib gerissen worden, dieser Schmerz warnicht zu besingen, lange Zeit sollte er nicht einmal empfunden werden, künstlich eingepflanzte Ersatzgesänge wurden zu offiziellen Anlässen angestimmt, sie haben die Zeit nicht überdauert. Warum sollen die Lieder länger leben als die Menschen, die sie gesungen haben, dachte ich. Spaniens Himmel breitet seine Sterne / über unsre Schützengräben aus … Wir sangen die Lieder der Alten, wir sangen das Lied von den Moorsoldaten, Wohin auch das Auge blicket, Moor und Heide nur ringsum. Wir sangen aber auch das neue Thälmannlied, Thälmann und Thälmann vor allen / Deutschlands unsterblicher Sohn, oder wir sangen zum Weltjugendtreffen Im August blühn die Rosen , aber es fehlte diesen Liedern etwas, wir hörten auf, sie zu singen, sie stimmten nicht.
    Also was war los mit mir, ich muß mich zusammennehmen, sagte ich mir, ich darf nicht so in mich versunken durch den Alltag treiben, auf dem wunderbaren Gemüsemarkt in der Second Street hatte ich heute an zwei Ständen vergessen, die gekaufte Ware mitzunehmen, man lief mit den Tüten hinter mir her. Dann war plötzlich mein Einkaufswägelchen verschwunden, auf das ich nicht verzichten konnte, jetzt ist es passiert, dachte ich, jetzt hat man mir das Wägelchen mitsamt meiner Lederjacke geklaut, dann stand es plötzlich mitten auf dem Weg friedlich vor mir, die Leute mußten sich dran vorbeidrängeln.
    Ich bin abwesend, dachte ich. Als ich mittags zum office ging, lief ich bei Rot über die Kreuzung, ein Auto mußte bremsen. In meinem Postfach lag ein Bündel Zeitungsauschnitte, gefaxt aus Berlin, ich legte die Papiere in eine Mappe, verstaute sie in meiner Tasche, ohne einen Blick darauf zu werfen, ich war ihnen nicht gewachsen.
    Ich ging hinüber ins ms. victoria , setzte mich in meinem Apartment an das Maschinchen und schrieb zu meiner eigenen Überraschung:

    in der stadt der engel wird mir die haut abgezogen. sie wollen wissen, was darunter ist, und finden wie beieinem gewöhnlichen menschen muskeln sehnen knochen adern blut herz magen leber milz. sie sind enttäuscht, sie hatten auf die innereien eines monsters gehofft.

    Na, hörte ich mich zu mir selber sagen, verrenn dich nicht. Die Sätze ließ ich stehen.
    Ich rief Peter Gutman an. Wie ist es dazu gekommen, fragte ich ihn, daß unsere Zivilisation Monster hervorbringt.
    Verhindertes Leben, sagte er. Was sonst. Verhinderte Leben.
    Ich weiß nicht, sagte ich, sind wir nicht vielleicht ursprünglich Monster?
    Ein Sturm weht vom Paradiese her, sagte Peter Gutman. Der treibt den rückwärts fliegenden Engel der Geschichte vor sich her. Doch er macht kein Monster aus ihm.
    Aber hinten hat er keine Augen, sagte ich.
    Das nicht, sagte Peter Gutman. Das ist es eben: Er ist blind.
    Geschichtsblind, sagte ich.
    Schreckensblind, wenn Sie so wollen, Madame.
    Vielen Dank, sagte ich und legte auf. Ich dachte, schreckensblind zu sein sei der Menschheit zu wünschen, denn wer könnte leben, indem er sich alle Schrecken gegenwärtig halte. Es müßte etwas geben wie eine Schreckensaustreibung, dachte ich. Ich erinnerte mich, wie du dir immer wieder vorstellen mußtest, wie der kleine Sohn eurer Zugehfrau, beim Schwimmen in der Warthe unter ein Floß geraten, ertrunken war und daß die Mutter zusehen mußte, als sie ihren toten Jungen aus dem Wasser zogen, und du dich fragtest, wie sie damit leben sollte, und ich erinnerte mich, daß du, das Kind, dich fragtest, wie du diese Angst vor Unglück und fremden und eigenen Verletzungen dein ganzes Leben lang aushalten solltest, aber da wußtest du noch nicht und hättest es nicht für möglich gehalten, daß man, ohne es zu wollen und zu wissen, Schutztechniken entwickelt gegen selbstzerstörerisches Mitgefühl.
    Ein paar Zeilen des alten Gedichts stiegen in mir auf, daslange Zeit obenauf in meiner Schreibtischschublade gelegen hatte, weil ich es jeden Tag brauchte, das ich auswendig konnte und jetzt vergessen hatte, aber diese Zeilen fielen mir ein: Nimm dein Verhängnis an, laß alles unbereut.
    Dieser öde Sonntag vormittag in meinem Apartment. Es regnete. Television. Ein Prediger in farbenprächtigem Phantasie-Habit vor dem Altar einer riesigen Kirchenhalle mit

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