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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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hunderten von Menschen, neben ihm General Schwarzkopf. Mit ersterbender Stimme las der berühmte Prediger dem General den Brief vor, den dieser zu Beginn des Golfkriegs an seine Familie geschrieben hatte. Beide Männer hatten Tränen in den Augen. Was hat sich seitdem geändert in unserem Land? fragte der Prediger den General. Immer noch schrieben ihm viele Leute und dankten ihm für das, was er für das Land getan habe, sagte der. Wir waren vielleicht zu erfolgreich, fuhr er fort. Der Kommunismus sei zusammengebrochen. Im Golfkrieg habe Präsident Bush, »the magnificent leader«, die richtigen Entscheidungen getroffen. Er arbeite im Wahlkampf für Bush.
    Pauken und Trompeten. Alle erhoben sich in der riesigen Halle und brachten dem General Ovationen dar. Begeisterte, hingebungsvolle Gesichter. Der Prediger betete mit schallender Stimme: God, give us men. What we need are leaders. Strong minds, great hearts, true faces who will not lie. – Yeah! riefen die hunderte von Menschen im Saal. Ihr Prediger forderte sie auf, sich sorgfältig im Gebet zu prüfen, bevor sie am nächsten Sonntag ihre Stimme abgeben würden. Yeah!
    Ehe der Golfkrieg begann, fiel mir jetzt ein, unternahmst du deine letzte öffentliche Aktion: Schriebst einen Text an die UNO, sie solle alles dafür tun, daß die französische Resolution, die einen Aufschub der Kampfhandlungen gegen die Golfregion forderte, angenommen werde, schicktest diesen Text per Telefon und per Fax an sämtliche dir bekannte Adressen, batest um Unterschriften, bekamst sie, sandtest das Dokument an die UNO – jetzt stieg mir die Schamröte ins Gesicht, wenn ich daran dachte – und saßest dann wenige Tage später früh um viervor dem Fernseher, sahst die amerikanischen Truppen an der Golfküste landen, wo sie von den bestellten Fernsehkameras empfangen wurden, und dir liefen die Tränen über das Gesicht, weil du dir die unstillbare Feindschaft der arabischen Welt gegen den Westen vorstellen mußtest, die in diesem Moment ausgelöst wurde. Auf Grund falscher Zeugenaussagen, wie wir inzwischen wissen.
    How are you? Sally rief an. Sie habe ihren Job bei den gefährdeten Jugendlichen aufgegeben, habe einen Kurs belegt, mit dem sie sich auf ein Studium vorbereiten wolle. Was für ein Studium? – Innenarchitektur. Design.
    Hör mal, sagte ich, und ich dachte, du seist die geborene Tänzerin.
    Ich sah sie vor mir, und ich kann sie heute noch vor mir sehen, wie ich sie Mitte der siebziger Jahre kennengelernt hatte, in einer kleinen Collegestadt im Bundesstaat Ohio, wie jung sie war, wie straff und durchtrainiert, wie glücklich sie war, als in einem Fernsehkanal eine Vorstellung ihrer Tanztruppe gezeigt wurde, ich sah, ich sehe ihren Vogelkopf mit dem streichholzkurzen dunklen Haar, wie gelöst, wie artistisch sie sich bewegte, wie verliebt Ron in sie war, alle blickten sich nach ihnen um, wenn sie beide, mit Broten unter den Armen, ausgelassen aus der deutsch-jüdischen Bäckerei über den großen Parkplatz zu ihrem Auto liefen, Ron mußte Sally immer ansehen und anfassen. Sie leuchtete. Sie hatte das Leben vor sich.
    Du, Sally, sagte ich, ich wäre nie auf die Idee gekommen, daß dein Selbstvertrauen so wacklig ist.
    Hast du eine Ahnung, sagte Sally. Dafür hat schon meine Mutter gesorgt. Jetzt spürt sie fast etwas wie Genugtuung, daß ich versagt habe, daß das Leben mit Ron mir nicht geglückt ist. – Das kann ich nicht glauben, sagte ich. – Und warum bezahlt sie mir jetzt so großzügig diesen Kurs, geizig, wie sie sonst ist? Und übrigens: Meinst du nicht auch, daß der Mann das spürt, wenn die Frau schwach wird? So wie ein Jagdhund es wittert, wenn ein Wild blutet, und es dann um so aggressiververfolgt? Kennst du das Bild von der Kahlo: Ein von Pfeilen durchbohrtes Reh mit dem Kopf einer Frau – ihrem eigenen Kopf? – Ich kenne es. – Und weißt du nicht, daß die Hetzjagd erst richtig losgeht, wenn du angeschlagen bist? – O ja, Sally. Das weiß ich.
    Du, sag mal, fragte Sally, was bedrückt dich eigentlich.
    Ach Sally, das ist eine längere Geschichte.
    Erzähl sie mir.
    Später. Bald.
    Aber ich erzählte die Geschichte nicht zuerst Sally, sondern Francesco, später. Noch war ich nicht so weit.
    Am Montag vormittag in der Lounge, fast alle waren da, versteckten sich hinter den Blättern aus ihren Heimatländern. Rechtzeitig vor den Wahlen hatten die Medien die Nachricht verbreitet, das Nationaleinkommen der USA sei in diesem Jahr überraschend um 2,7 %

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