Stadt der Engel
Geschichte einer Frau, die vor Tigern flüchtet. Sie läuft und läuft, und die Tiger kommen immer näher. Als sie an den Rand eines Felsens kommt, sieht sie Weinstöcke weiter unten, und sie klettert hinunter und holt sich von den Trauben. Beim Hinunterblicken sieht sie, daß da auch Tiger sind. Dann bemerkt sie eine Maus, die in die Weinstöcke huscht, dann sieht sie einen wunderschönen kleinen Himbeerstrauch, ganz nah, der aus einem kleinen Grasflecken herauswächst. Sie blickt hinauf, blickt hinab, sieht der Maus nach, pflückt schließlich eine Himbeere, steckt sie in den Mund und genießt den Geschmack mit allen ihren Sinnen. – Das kam mir menschenunmöglich vor, auch nicht erstrebenswert.
Computerabsturz. Nach dem ersten Schock, nach den Rettungsversuchen durch besser beschlagene Freunde, die zu nachtschlafender Zeit sogar telefonische Beratung durch wieder andere, noch besser beschlagene Freunde in Anspruch nehmen – anscheinend wird eine Computerhavarie ganz selbstverständlich als Katastrophe behandelt und löst zu jeder Tages- und Nachtzeit grenzenlose Hilfsbereitschaft aller PC-Profis aus –, nachdem wir uns einen Überblick verschafft haben, wieviel Text wirklich verloren ist, da ich zu träge gewesen bin, ihn jeden Abend auf die Diskette zu speichern; nachdem mir also klargeworden ist, daß die Leerstelle durch das in meinem Kopf gespeicherte Material zu füllen sein würde, kommt etwas wie eine merkwürdige Schadenfreude in mir auf. Was hat dieser Unfall zu bedeuten? Wird mir da aus den Untiefen der Technik ein unüberhörbares Stop! zugerufen? Einehochwillkommene Entlastung von einer Daueranstrengung? Die Hitze dieses abnormen Mecklenburger Sommers als Vorwand nehmen dürfen für Faulheit? Oder wie könnte ich diesen banalen Zufall sonst verstehen, deutungssüchtig, wie ich bin? Will dieser »Absturz« – welch klares Bild! – mich warnen, daß ich mich, schreibend, dem Punkt nähere, den ich mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger kunstvoll umschlichen habe?
Immer ist es ein Zeichen, wenn ich anfange, meine Haare zu verlieren, damals, in der Hitze des kalifornischen Jahreswechsels, verlor ich wieder meine Haare, pfundweis, gab ich nach Berlin durch, pfundweis verliere ich meine Haare. Du hast genug davon, und die wachsen wieder nach, kam die Stimme über den Ozean. Diesmal nicht, dachte ich, holte mir Pillen für das Wachstum von Haaren und Nägeln und versuchte mich zu erinnern, wann mir früher meine Haare ausgegangen waren. Nach dem Typhus 1945, da warst du fast kahl. Nach den Geburten der Kinder, da lagen früh Dutzende von Haaren auf deinem Kopfkissen, wie jetzt auf dem fest gestopften Kissen in meinem breiten amerikanischen Bett. Nach jenem Parteiplenum 1965. Nach dem Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen in Prag 1968. In dem trostlosen düsteren Winter 1976/77, als sich die Autos mit ihrer Doppelbesatzung von Beobachtern vor eurem Fenster ablösten und ihr hinter der Gardine die Frage gehen oder bleiben erörtertet. Nach den fünf Operationen 1988. Nach dem Scheitern der Volkserhebung vom Herbst 1989, die kein Programm hatte, ein unvermeidliches Scheitern, aber das scheint jene Hormone, die für den Haarwuchs verantwortlich sind, nicht zu kümmern, sie scheinen nicht auf Einsichten, nur auf Gefühlsstürme zu reagieren, die an die Wurzeln der Existenz gehen.
Thomas Manns Tagebücher. Pacific Palisades, Sonnabend den 15. X. 49: … Brief an einen Deutschen, der mir Liebeserklärung an Serenus Zeitblom schickte … : Die Wahrnehmung tut mir doch wohl, dass es in Deutschland auch Leute gibt, diean dem Werk meines Alters, und an meinem Werk überhaupt, etwas zu lieben – und nicht nur zu mäkeln – finden. Im Grunde ist es dumm von den Deutschen, dass sie immer das Beste, was sie gerade haben, und was sie vor der Welt anständig vertritt, herunterzerren und schimpfieren müssen. Das tut kein anderes Volk.
Television. Ich sah Mr. Clinton, der am nächsten Tag Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein würde, mit seiner Frau Hillary, die im Wahlkampf ihr allzu selbstbewußtes Auftreten hat abmildern und ihr Outfit hat ändern müssen, und mit ihrer Tochter Chelsea an der Spitze eines großen Stroms von Amerikanern aller Hautfarben und Altersgruppen in Washington über jene berühmte Brücke laufen, an der Hand schwarze Kinder, auf die nachgebildete Freiheitsglocke zu, die sie dann läuteten. Daß Chelsea nicht in eine public school gehen würde, obwohl die Clintons
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