Stadt der Engel
selbstverständlich für public schools waren, das schienen die Amerikaner den Eltern zu verzeihen, und ich fragte mich, ob ich mich in drei, vier Monaten genieren würde, daß ich beim Anblick dieser gelösten, freudigen, vorwärtsschreitenden Menge feuchte Augen bekam.
Traum. Bin auf der Autobahn mit mehreren Leuten in verschiedenen Autos unterwegs, kein in meinem »wirklichen« Leben Bekannter ist dabei. Kahles, ödes Gelände. Kurzer Halt. Plötzlicher Aufbruch. Nun fahre ich ganz allein in einem winzigen Auto, stoppe, da sehe ich im Rückspiegel groß die Kühlerhaube eines riesigen grünen Lasters auftauchen. Ich muß weiterfahren, will aber aus irgendeinem Grund unbedingt zurück, schere also aus und lenke mein Auto in einem kühnen Manöver über den Mittelstreifen. Drüben stehen einige blasse Gestalten, einer sagt zum anderen: Heute ist ja der Jahrestag der DDR, der andere antwortet lässig: Den lassen wir unter den Tisch fallen. Dann rufen sie mir aufgeregt: Achtung! zu: Auf der Autobahnseite, auf die ich gerade auffahren will, kommt ein Krankenwagen mit wehender Rotkreuzfahne angerast, biegt kurz vor mir und meinem Autochen auf die Fahrbahn,von der ich komme, und hält nach hundert Metern an. Jetzt erst sehe ich: Dort liegen Leichen, in Decken gehüllt, auch einzelne Särge. Alles grau. Und wir hatten wenige Meter vor diesem Unheil Rast gemacht und hatten nichts bemerkt! Das bleiche Licht über der Landschaft. Ein surrealistisches Bild.
Im Radio hörte ich beim Frühstück einen Mann über seine Eltern sprechen, die vor vierzig Jahren exekutiert worden seien. Sie seien ehrenhafte Menschen gewesen, hörte ich ihn sagen, die die Welt hätten besser machen wollen. Ich verstand: Da sprach einer der Söhne von Ethel und Julius Rosenberg. Mein Bruder und ich, sagte er, waren zehn und sechs Jahre alt, als meine Eltern hingerichtet wurden. Ganz davon abgesehen, was es bedeutet, auf diese Weise seine Eltern zu verlieren – man stellt sich kaum vor, was es bedeutete, in den Vereinigten Staaten als Kind solcher Eltern aufzuwachsen. – Was bedeutete es also, fragte die Moderatorin. Da erzählte Robert von einem Alptraum von Kindheit; von dem Zwang, den eigenen Namen abzulegen, von einem Waisenhaus, das er »Gefängnis« nannte. Von Schulverweisen unter Vorwänden, wenn die Eltern der anderen Schüler ihre Identität herausgefunden hatten. It was an experience, sagte er, und es gebe noch mehr Kinder in Amerika, deren Eltern für eine bessere Welt gestorben seien und die man vergessen habe. Er und sein Bruder hatten einen Fonds zur Unterstützung solcher Kinder gegründet.
Ich entsinne mich genau dieses Tages. Es muß 1953 gewesen sein, du studiertest in Leipzig, euer erstes Kind war geboren, du saßest auf der Liege im heizbaren Zimmer und hattest das Baby auf dem Arm. Es war Morgen. Du hörtest im Radio, in dieser Nacht seien Ethel und Julius Rosenberg in den USA auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet worden. Du weintest. Du strichst deiner kleinen Tochter über das Köpfchen. Ich fühle heute noch in den Fingerspitzen, wie weich und verletzlich es war. Ich weiß noch, daß du dachtest: Diesen Tag vergesse ich nicht. Ich habe ihn nicht vergessen.
Teepause im CENTER. Die Namen der Rosenbergs kanntenalle, über die moralischen Verstrickungen der Atomphysiker hatten alle nachgedacht: Diente ihre Arbeit an der Atombombe der Niederwerfung des Nationalsozialismus? Mußte ein Wissenschaftler sich nicht grundsätzlich weigern, an einer Waffe mitzuarbeiten, die letzten Endes die Menschheit vernichten konnte? Oder mußte man nicht alles auf sich nehmen, um den Vernichtern der Menschheit in den Arm zu fallen, ihnen mit ihren eigenen Waffen zu drohen? Also: Schuldig werden in jedem Fall. Der Konflikt der alten Tragödien. Warum aber kam mir der Konflikt des Orest, der Iphigenie menschlich vor, der unserer Atomphysiker aber unmenschlich, fragte ich Peter Gutman, der mit mir zum ms. victoria ging. Der sagte: Wenn gutwillige normale Menschen so in eine Klemme getrieben werden, daß sie, nach ihren eigenen Maßstäben, nichts mehr richtig machen können, dann ist die Gesellschaft krank, in der sie leben.
Ich schwieg.
Doktor Kim wollte auf einmal von mir wissen, was er auf mich für einen Eindruck machte. Also doch eitel, dachte ich belustigt, besann mich kurz und sagte: Er wirke willensstark, gütig, er wisse, was er wolle, er habe Humor, könne lachen, vor allem kenne er die Rangordnung der Dinge, könne Wesentliches von
Weitere Kostenlose Bücher