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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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oder offen verhieltet, und in jedem Fall sagtet ihr, daß ihr es tun mußtet, und das war eine ehrliche Auskunft, und manchmal fügtet ihr hinzu, daß diese Ausbürgerung an die finstersten Zeiten in Deutschland erinnere und daß ihr nicht mehr hättet schreiben können, wenn ihr diese Maßnahme stillschweigend hingenommen hättet. Fiel das Wort »sozialistisch«? Gewiß. Es wurde von beiden Seiten gebraucht, als Anklage, als Verteidigung, und die sich ihre Feigheit am meisten übelnahmen, waren am wütendsten auf euch und wiederholten am häufigsten das Wort »Schaden«, ihr hättet eurem Land unermeßlichen Schaden zugefügt, ihr grifft das Wort auf und gabt es zurück. Nur als eine alte Genossin, Jüdin, die lange in der Emigration gewesen war, euch in einer der Versammlungen zitternd zurief, ihr wolltet die Konzentrationslager wiederhaben, da schwiegtihr, dazu war nichts zu sagen, und du begriffst: Es war hoffnungslos. Da kam der Schmerz. Und angesichts der anderen, die euch erregt oder kalt gegenübersaßen und die euch zum Widerruf bringen und die Urheber der Verschwörung aus euch herausfragen und euch gegeneinander ausspielen wollten, kam die Wut, und es wuchs und wuchs die Erkenntnis, daß ihr Gegner wart, unversöhnlich, und daß es keine gemeinsame Sprache und keine gemeinsame Zukunft mehr gab.
    Früher Morgen, ich hielt es im ms. victoria , in meinem Apartment nicht aus, ich ging zur Ocean Park Promenade, das Erinnerungsband lief weiter in meinem Kopf, mir fiel ein, daß es doch schade war um jenes Tagebuch, in das du ein Jahr nach diesem Winter unseres Mißvergnügens in Ungarn, in einem Schwefelbad, eine genaue Chronik der Ereignisse aufzeichnetest und das du sträflicherweise, um es bei einer Durchsuchung nicht bei dir zu haben, in jene Reisetasche legtest, die mit dem anderen Gepäck in den Flieger verladen wurde, die aber niemals auf dem Leipziger Flughafen ankam. Ihr wartetet lange am Schalter für vermißtes Gepäck, schicktet alle Suchmeldungen los, die für einen solchen Fall vorgesehen waren und die fast immer, wie man euch versicherte, Erfolg hatten. Allerdings führtest du in der Liste der vermißten Gegenstände jenes am meisten vermißte Tagebuch nicht auf, nichts wurde wiedergefunden, aber alle verlorenen Gegenstände wurden dir anstandslos von der Reiseversicherung ersetzt, Waschzeug und Schlafanzug und Schuhe, nicht aber jenes Tagebuch, das es gar nicht geben durfte. Das nirgends dokumentiert ist, aus Vorsicht auch nicht von mir, und das es daher leicht hatte, sich in nichts aufzulösen, so daß nun niemand an seine einstmalige Existenz glauben muß, da auch die Akten der Behörde, auf die ich eine gewisse Hoffnung gesetzt hatte, in diesem Fall versagten: Es lag nicht in der großen grünen Holztruhe bei der Masse der anderen Dokumente, und ich ertappte mich dabei, daß ich denen, die sich so fleißig über unser Tun und Lassen informiert hatten, diese Nachlässigkeit zum Vorwurf machte. Aber warensie denn zur Vollständigkeit verpflichtet? Oder zur Wahrhaftigkeit?
    Wir fanden ja auch kein Zeugnis über jene finstere Nacht, in der auf der Straßenkreuzung eurem Haus gegenüber ein Mannschaftswagen der Polizei mit voller Besatzung stationiert war, stundenlang, ihr standet hinter der Gardine, die du erst angebracht hattest, seit die jungen Herren in den Autos vom Parkplatz auf der anderen Straßenseite eure Wohnung unter Beobachtung genommen hatten, ihr saht, wie sich drüben einer aus der Truppe löste und zur Telefonzelle auf eurer Straßenseite ging, woraufhin prompt euer Telefon klingelte, mitten in der Nacht, ohne daß irgend jemand sich meldete, als du den Hörer abnahmst, und nach einiger Zeit fuhr dieser Mannschaftswagen ab, und ihr konntet zu Bett gehen, ohne allerdings Schlaf zu finden. Am nächsten Tag erschien das Zentralorgan der Partei verspätet, erst mittags.
    Alles wahr, aber nicht zu beweisen, dachte ich, während die Frühsportler an mir vorbeiliefen, die Sonne linkerhand schon hochgekrochen war und die Erinnerung sich nicht mehr aufhalten ließ, denn diese merkwürdige Nacht bekam doch noch so etwas wie eine Erklärung durch den Bericht eines befreundeten Schauspielers. Er sei zufällig in jener Nacht, nach einer Premierenfeier, an der Druckerei vorbeigekommen, bei der gerade die druckfrischen Zeitungen, auf Paletten zusammengeschnürt, ausgeliefert und auf Lastwagen verladen wurden. Eine der Verschnürungen habe sich gelöst, eine Zeitung sei herausgefallen, er habe die

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