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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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große Schlagzeile auf der ersten Seite lesen können, die besagte, ihr alle, ihr Verschwörer und Erstunterzeichner jenes Protestes, hättet eure Aktion als schädlich erkannt und sie widerrufen. Und ein anderer wollte wissen, man habe euch in jener Nacht festnehmen und so lange unter Druck setzen wollen, bis ihr den Widerruf unterschrieben hättet, ein Plan, der aber von einer anderen Fraktion in der Führungsschicht gestoppt worden sei. Eine abenteuerliche, unbeweisbare Version.
    Damals hattest du Angst. Inzwischen habe ich erfahren, daßdas Gefühlsgedächtnis sich nicht abhärtet, sondern an der Stelle, in die ein Gefühl einmal tief eingeschnitten hat, empfindlich bleibt. Bin ich ängstlicher geworden? Ich verweigere die Antwort. Inzwischen, erinnere ich mich, habe ich ja in meinen Akten die Kopie jenes Planes der Behörde gefunden, der dann auch ausgeführt wurde: Man verbreitete, um dich bei den anderen Protestierern zu verunglimpfen, die Behauptung, du hättest insgeheim bei einem der »Gespräche« deine Unterschrift doch widerrufen und eure Aktion als Fehler eingestanden. Verschwiegen haben sie, daß sie niemals etwas anderes als ein Nein von dir zu hören kriegten, ein Nein, das, wie du genau wußtest, aus Gründen der Selbsterhaltung unantastbar war und bleiben mußte.
    Dies war einer der Wendepunkte in meinem Leben, dachte ich.
    Ocean Park. Es wurde warm, an meiner Bank zogen die einsamen Läufer und Geher vorbei, durchgeschwitzt und zielstrebig. Dann kam ein Mann indianischen Aussehens, der sich mir gegenüber an das Geländer lehnte, Merry Christmas sagte und fragte, ob er sich zu mir auf die Bank setzen dürfe. Sure. – I am an Indian, sagte er, coming from Oklahoma. Er sei nur für zwei Tage hier, um eine Freundin zu besuchen, aber als er bei ihr eintraf, war sie nach Kentucky umgezogen. Er sei gerade weit gelaufen, von Venice herüber. Er trug ein helles T-Shirt und hatte einen weißen Pullover um den Hals geknotet. Wie ich hieße. Ich sagte meinen Vornamen. Er heiße Richard. No Indian name, sagte ich. Sein Nachname sei indianisch, er nannte ihn, sehr kompliziert. Er gab mir die Hand, die verkrüppelt war. Ich fragte nach seinem Job. Er könne nicht mehr arbeiten, er zeigte auf die Hand und eine lange Narbe am Unterarm: Ein Autounfall. – Very bad. Und dann kam, worauf ich beklommen gewartet hatte: Do you have some change for me? Leider war ich losgelaufen ohne Tasche, ohne Geld. Ich sagte es, bedauernd. Er nickte. Ob ich verheiratet sei. Als ich bejahte, stand er auf: Nice to have spoken with you, und ging. Und dies, dachteich, war nun meine erste Begegnung mit einem der Ureinwohner von Amerika.
    Dann kamen die beiden jungen, brav gescheitelten Männer in ihren blütenweißen Hemden auf mich zu, um mir ihre Mormonenbibel aufzudrängen. Da stellte ich mich, als würde ich kaum ein Wort Englisch sprechen, als verstünde ich sie kaum, und übrigens sei ich nicht gläubig und würde es auch nie sein, worauf der eine der beiden mich scharf fixierte und fragte, woher ich das wissen wolle. Immerhin ließen sie es bei einem leaflet bewenden, das sie mir überreichten und das mir mitteilte, Gott habe zur Vergebung meiner Sünden auch für mich seinen Sohn geopfert. Eigentlich hätte ich diese beiden blütenweißen jungen Männer, die ein Stück weiter ihre Bibel an eine Frau losgeworden waren, fragen sollen, wie grausam ein Vater sein müßte, um seinen Sohn einem gräßlichen Opfertod zu überantworten, und warum die einzige Art und Weise, wie der Christenmensch seiner Sünden ledig werden kann, das Kreuz ist, das Folterinstrument, das seine Arme verrenkt. Während der Kreis, das Symbol des Buddhismus, den Menschen als Ganzes in die Mitte des Universums stellt, der Kreis, der dich umgibt, bewirkt, schrieb Perma, die Nonne, daß du immer auf einem heiligen Platz stehst, und du könntest deine Sinne öffnen, um der Bedeutung und der Schönheit einer jeden Einzelheit in einem jeden Augenblick deines Lebens gewahr zu werden. If you want to attain enlightenment you have to do it now.
    Ins ms. victoria zurücklaufen, das um die Vormittagszeit nur von Herrn Enrico und den Reinigungstrupps belebt war. Hallo, Herr Enrico, nice to see you, yes, I am fine, yes, my apartment is okay, thank you, und in meinem Apartment fand ich Angelina, die einzige schwarze Frau unter den Reinemachleuten im ms. victoria , und Alfonso vor, einen Puertoricaner, die gerade die Bettwäsche gewechselt hatten – auch die des Bettes,

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