Stadt der Engel
Innern, und ich erwachte mit einem tiefen Unheilsgefühl und wagte mich an die Deutung dieses Traumes nicht heran.
Heute hindert mich ein Fernseherlebnis daran, sofort und ohne zu zögern niederzuschreiben, wofür dieser Arbeitstag vorgesehen war: Das Auftauchen der Gesichter jener meist älteren, oft alten Männer gestern zu später Stunde auf dem Bildschirm. Was sie erzählten, oder richtiger: aussagten, hatte Realitätswert: Die meisten von ihnen waren ja einst Mitarbeiter jener sagenumwobenen US-amerikanischen Institution gewesen, deren Name, CIA, in verschiedenen Gegenden der Welt und in verschiedenen Bevölkerungsschichten unterschiedliche Reaktionen auslöst. Warum sie aber jetzt anfangen, ihre Heldentaten aus den sechziger, siebziger und achtziger Jahren aufzublättern, will mir nicht einleuchten. Zwingt sie jemand dazu, sie, die doch die Sieger der Geschichte sind? Welcher Teufel reitet sie, jetzt zu erzählen, daß zwanzigtausend Vietnamesen – egal, ob Angehörige des Vietkong oder nicht – auf Befehl der CIA ermordet wurden? Daß es gegen Patrice Lumumba, Martin Luther King, Fidel Castro Mordbefehle gab? Daß der Sturz Salvador Allendes in Chile nach einem ausgeklügelten Plan erfolgte? Wen Amerika weghaben wollte, den hat die CIA ermordet, und jeder der Präsidenten, die an der Macht waren, hat das entweder selbst angeordnet, oder er hat zumindest davon gewußt, sagt einer der alten Männer. Warum sagt er das? Weil ihn die Reue gepackt hat? Weil manches inzwischen sowieso bekannt geworden ist? Es gibt eine dritte Möglichkeit: Weil sie es sich erlauben können. Weil keiner sie zur Rechenschaft ziehen kann. Weil sie die Weltherrschaft und damit automatisch recht haben. Weil alles, was nötig war, diese Weltherrschaft zu erringen, von Natur aus gut war. So ist es nun mal, und diese alten Männer, die rückblickend gar nicht ganz unkritisch sind, wissen genau, daß keine ihrer Enthüllungen irgendwelche Folgen haben wird. Mag sein, sie lösen in ein paar hundert Fernsehzuschauern einen Schrecken, vielleicht sogar Entsetzen aus, na und? Das beschädigt ihr Lebensgefühl nicht, das ihnen erlaubt, ohne Selbstzweifel auf der Insel der Wohlhabenden und Rechthabenden zu leben.
Nachdem ich wider Erwarten eingeschlafen war, erschien mir gegen Morgen eine mir fremde, nicht unsympathische jüngere Frau, die mir mit beiden Händen halb durchsichtige, um zarte Skelette gebildete Körperteile eines lurchartigen Geschöpfs entgegenhielt und sagte: Du mußt die Kröte schlucken. Als ich erwachte, mußte ich lachen. Sie hatte ja recht.
The overcoat of Dr. Freud, dachte ich, was mag dieser Mantel alles in seinem Innenfutter versteckt halten und nach und nach freisetzen? Ja, sagte Bob Rice, das hab ich mich auch gefragt. Was das zu bedeuten hat, daß ich diesen Zaubermantel verloren habe. Daß er mir gestohlen werden konnte. Hatte ich die Tür wirklich abgeschlossen? Wenn nicht – eigentlich unmöglich, aber den Verdacht darf ich, Freud zufolge, doch nicht ganz ausschließen! –, was könnte das bedeuten? Wollte ich diesen Mantel etwa wieder loswerden? Damit er nicht da an meiner Tür hängen und mich jeden Tag an bestimmte Dinge erinnern konnte, die ich lieber vergessen wollte?
Wem sagen Sie das, Mister, sagte ich, denn über Erinnern und Vergessen lernte ich gerade einiges, was ich nicht für möglich gehalten hätte. Alles in mir sträubte sich dagegen, aber es ließ sich nicht mehr aufschieben, damit an die Öffentlichkeit zu gehen, ich fing an, eine Art Bericht zu schreiben, so wahrhaftig wie möglich, den ich an eine Zeitung nach Berlin faxte. Ich sprach mit niemandem darüber, bis Peter Gutman eines Morgens im Sekretariat einen Artikel aus dem Faxgerät nahm, einen Blick auf seine in großen Lettern gehaltene Überschrift warf und ihn an mich weiterreichte: Für dich bestimmt. Ich las das groß gedruckte Stichwort, las meinen Namen und begriff: Meine Akte war den Medien übergeben worden.
Du hör mal, sagte ich zu Peter Gutman, da muß ich dir was erzählen.
Mußt du gar nicht, sagte Peter Gutman und ließ mich stehen: Er wollte nichts hören. Kam aber nach wenigen Minuten noch einmal zurück: Ich hoffe, du hast nicht vergessen, daß ich morgen Geburtstag habe. Um acht bei mir.
Er war einer der letzten, dem ich »was erzählen« durfte, dann aber am ausführlichsten und am häufigsten.
ALSO WEM KONNTE ICH DIE GESCHICHTE ERZÄHLEN
ALSO WEM KONNTE ICH DIE GESCHICHTE ERZÄHLEN die nun erzählt werden mußte,
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