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Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
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obwohl es ja gar keine Geschichte war? Das Zufallsprinzip sollte entscheiden: Wer würde beim Nachmittagstee in der Lounge sitzen? Francesco. Allein. Als Zufallstreffer gar nicht so übel. Ich legte das gefaxte Zeitungsblatt vor ihn auf den Tisch, den Artikel, in dessen Überschrift mein Name vorkam im Zusammenhang mit den zwei Buchstaben, die seit Monaten in den deutschen Medien den höchsten Grad von Schuld bezeichneten, und redete drauflos, einen Nachmittag lang, niemand störte uns, es wurde spät, die Sonne war untergegangen, von uns unbeachtet, dann war ich erst mal am Ende, und Francesco sagte: Scheiße.
    Francesco, der an jenem stillen Regensonntag ganz allein hinter seiner Zeitung saß und wieder über den Nachrichten aus Italien verzweifeln wollte. Sie haben das Land ruiniert, sagte er. Unsere politische Klasse hat das Land ruiniert, und wir haben zugesehen. Das geht den Menschen wie den Leuten, sagte ich, und weil er aufmerksam aufblickte, interessiert zu sein schien, konnte ich den Fax-Artikel vor ihn auf den Tisch legen, und weil er seine Zeitung zusammenfaltete und mich auffordernd ansah, konnte ich reden. Francesco, den manche für unsensibel hielten, der zu cholerischen Anfällen neigte, hörte auf die rechte Weise zu, und ich erzählte ihm von jener Woche vor einem Dreivierteljahr, die mir aus der Zeit gefallen war.
    Von deiner Fahrt, zehn Tage lang, jeden Morgen in jenen Teil von Ostberlin, den du wenig kanntest. Von jener Straße, die gerade berühmt und berüchtigt wurde, weil sie die Adresse war für jene Behörde, die von allem Bösen, das der untergehende Staat verkörperte, das Böseste war, das Teuflische, das jeden,der mit ihm in Berührung gekommen war, infiziert hatte. Ich versuchte Francesco das Gefühl zu beschreiben, mit dem du auf jenen Innenhof einbogst, um den herum fünfstöckige eintönige Bürohäuser im Quadrat standen. Er kenne solche Häuser, sagte Francesco, und wie sollte er, der Architekturhistoriker, sie nicht kennen. Flüchtig der Gedanke, daß nur in solchen Häusern diese Art von Behörde einquartiert sein konnte. Fremdheit, Beklommenheit überkamen dich, während du auf dem riesigen, immer überfüllten Parkplatz eine Lücke suchtest. Auf welchen Eingang du dann zusteuern mußtest, wußtest du schon, hieltest deinen Ausweis bereit. Daß der Wachhabende dich allmählich kannte, machte es dir paradoxerweise leichter, einzutreten. Natürlich mußte er deine Ausweisnummer jedesmal wieder notieren, die früheren Wachhabenden, die hier Dienst hatten, haben das ja auch getan, dachtest du, während du die Treppe hochgingst, und dir war bewußt, um wieviel beklommener dir zumute gewesen wäre, wenn du in der alten, noch ungewendeten Zeit, vor drei, vier Jahren, in dieses Haus bestellt worden wärest. Dabei wußtest du ja nicht einmal, ob man Außenstehende – Verdächtige? – überhaupt in dieses Haus bestellt hatte oder ob nur Angestellte dieser Behörde hier ein- und ausgegangen waren, deren allergeheimste Materialien nun, da sie zur Hinterlassenschaft geworden waren, vor den Augen von fast jedermann ausgebreitet wurden, auch vor meinen Augen, soweit sie mich betrafen, sagte ich zu Francesco. Kannst du verstehen, fragte ich ihn, daß ich mich jeden Tag zwingen mußte, wieder dorthin zu gehen, mich bei der übrigens netten, bescheidenen und unaufdringlichen Frau zu melden, die jenen winzigen Teil der riesigen Materialfülle verwaltete, der euch betraf und den sie in einer großen grünen Holzkiste lagerten, die ihr »Seemannskiste« nanntet, aus der sie dir die täglich zu bearbeitende Ration von Akten herausholte, um sie vor dir auf den Tisch in jenem Besuchszimmer zu legen, in dem an gleichen Tischen andere Besucher vor ihren Aktenstapeln saßen.
    Es war sehr still in diesem Raum. Deine Bearbeiterin machtedich mit den geltenden Spielregeln bekannt, übrigens gehörte es zu diesen Regeln, daß sie deine Akten Wort für Wort vor dir gelesen hatte, aber, wie sie versicherte, verpflichtet worden sei, nicht über ihren Inhalt zu sprechen.
    Hör mal, sagte Francesco, du mußt jetzt nicht weiterreden. Doch, ich muß, sagte ich. Es waren viel mehr Akten, als du erwartet hattest. Zweiundvierzig Bände, später kamen noch mehr dazu, darunter Telefonabhörprotokolle. Die Observierung hatte sehr früh angefangen. Dabei waren die Akten der achtziger Jahre bis auf eine Karteikarte, auf der ihr Inhalt verzeichnet war, nicht vorhanden. Vernichtet. Jedenfalls nicht auffindbar.
    Und? fragte

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