Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Stadt der Engel

Stadt der Engel

Titel: Stadt der Engel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Wolf
Vom Netzwerk:
Francesco. Hättet ihr anders gelebt, wenn ihr das gewußt hättet?
    Darüber habe ich seitdem nachgedacht, sagte ich. Ihr hattet, wie viele eurer Freunde, damit gerechnet, beobachtet zu werden. Aber nicht so früh. Nicht so lückenlos. Am Telefon hattet ihr Witze gemacht. Hattet zwar eure Meinungen ziemlich rückhaltlos zum besten gegeben, es aber vermieden, Namen zu nennen. Soviel Vorsicht mußte sein. Ihr wolltet euch aber auch nicht so wichtig nehmen und euch in eine Paranoia hineintreiben lassen. Das ist schwer zu beschreiben, dieser Zustand von Wissen und Verdrängen, in dem wir lebten, sagte ich zu Francesco. Und ob wir anders gelebt hätten, wenn wir alles gewußt hätten – ich weiß es nicht.
    An jenem Nachmittag in der Lounge konnte ich nicht wissen, wie viele Abende, wie viele Stunden in den kommenden Jahren mit dem uferlosen Gerede vergehen sollten, das wir »Stasi-Debatte« nennen würden. Berichte über die jeweilige Aktenlage. Ob ein Verdacht sich bestätigte oder zerstreute. Und in der Öffentlichkeit beherrschten die zwei Buchstaben das Feld: IM. »Informeller Mitarbeiter«. Auf wen die zutrafen oder zuzutreffen schienen, der war verurteilt, wie wenig oder wieviel diese Buchstaben wirklich über ihn aussagen mochten.
    Meine Betreuerin, sagte ich zu Francesco, die ja meine Akten kannte, hat mich übrigens zweimal morgens gewarnt: Ichwürde an diesem Tag wohl eine böse Überraschung erleben. Und? fragte Francesco. Kam die böse Überraschung?
    Sie kam: Ausführliche Berichte eines Freundes über euer Leben und Treiben. Da du diesen Freund gut kanntest, hattest du zum ersten Mal die Gelegenheit, eine Erklärung dafür zu suchen, warum sie ihn dazu bringen konnten, euch zu bespitzeln. Ohne seine Schuld hatten sie ihn in der Hand. Aber warum hatte er euch nicht einen Wink gegeben? Während ich diese Berichte las, sagte ich zu Francesco, mußte ich gegen eine Übelkeit ankämpfen, mußte ich daran denken, wie viele Leute diese Seiten vor mir gelesen hatten, wie viele sie nach mir lesen würden, ich fragte mich, ob das erlaubt sein dürfte, und ich entwickelte die Zwangsvorstellung, auf dem Innenhof dieses öden Häuservierecks würde ein Riesenfeuer entfacht, und ich würde all die Akten aus der Seemannskiste holen und sie nach und nach ins Feuer werfen. Ungelesen. Was für eine Erleichterung ich dabei empfinden würde.
    Kann ich gut verstehen, sagte Francesco.
    Ich aber, sagte ich, ich mußte statt dessen diejenigen Decknamen aus den Akten heraussuchen, die ich kopieren lassen wollte, ein Köfferchen voll. Ich mußte die Formulare ausfüllen, mit denen ich diese Kopien beantragte, und andere Formulare, auf denen ich die Klarnamen derjenigen zu wissen verlangte, die uns bespitzelt hatten. Die ich ein paar Tage später schwarz auf weiß vor mir hatte, sie aber, weil es mir peinlich war, meist nur überflog, öfter einen Verdacht bestätigt fand, manchmal doch schmerzlich überrascht war, und die ich dann merkwürdigerweise schnell vergaß.
    Mittags gingst du – um aus diesem Raum mit den schweigend lesenden Leuten herauszukommen, die jeder in seinen eigenen Kummer versunken und anscheinend unfähig waren, mit einem anderen darüber zu sprechen, eine besondere Art von Scham hinderte euch daran, mehr als einen knappen Gruß miteinander auszutauschen – mittags gingst du über den Hof in eines der anderen Gebäude, dort aßest du in einer Art Kantine,die offenbar für die Mitarbeiter dieser Behörde eingerichtet worden war, eine lieblos zubereitete Mahlzeit, mustertest dabei die anderen Essenden und fragtest dich, wie viele von ihnen vor drei, vier Jahren schon hier gearbeitet haben mochten und ob sie, um diese Stelle zu bekommen, ihr früheres Denken und ihre frühere Tätigkeit hatten verleugnen müssen. Oder ob sie ihr wirkliches Denken früher verleugnet hatten und sich jetzt befreit fühlten. Doch wie Befreite sahen sie nicht aus, sagte ich zu Francesco. Aber was bewies das schon.
    Ich schilderte ihm, wie du von Tag zu Tag bedrückter wurdest, den Augenblick herbeisehntest, in dem du endlich die Akten zurückgeben und Feierabend machen konntest. Und wenn du durch die bekannten fremden Straßen nach Hause fuhrst, hattest du das Gefühl, zu beiden Seiten der Straße habe ein Prozeß des Verwelkens begonnen, der schnelle Fortschritte machte. Die Fassaden der Häuser schienen in wenigen Tagen um Jahre zu altern, die Menschen auf den Bürgersteigen schienen zu schrumpfen, obwohl sie in den Plastiktüten

Weitere Kostenlose Bücher