Stadt der Engel
mit den neuen bunten Aufdrucken die neuen Waren nach Hause schleppten, nach denen es sie so sehr verlangt hatte, und selbst die neuen Automarken, die immer häufiger zwischen den alten Fahrzeugen auftauchten, verbreiteten nicht jene Fröhlichkeit, die man sich von ihnen erhofft hatte, als sie noch Sehnsuchtsobjekte auf den Bildschirmen waren. Mein Blick mochte getrübt sein, sagte ich zu Francesco, vielleicht erlebte ich wieder einmal einen jener historischen Augenblicke, in denen ich nicht jubeln konnte, wenn die meisten Menschen jubelten, ich mußte mir eingestehen, daß meine Wünsche und die der meisten Menschen nicht in die gleiche Richtung gingen. Und daß viele meiner Irrtümer eben daraus erwuchsen. Und manchmal mußtest du bei der Rückfahrt anhalten, in irgendeines der neuen Geschäfte gehen und dir eine Bluse oder ein anderes Kleidungsstück kaufen, das du dann nie trugst. Und zu Hause mußtest du sofort duschen und dich vollständig umziehen.
Der Blick in diese Akten, weißt du, hat die Vergangenheitzersetzt und die Gegenwart gleich mit vergiftet. Das verstehe er nicht ganz, sagte Francesco. Ein plötzlicher Einbruch von Fakten könne eben auch zerstörerisch wirken, sagte ich, da wurde Francesco wütend und herrschte mich an: Ob ich etwa dächte, was ich da in diesen Akten gefunden hätte, sei die Wahrheit über Fakten gewesen?
Die Öffentlichkeit wird dazu gebracht, das zu denken, sagte ich.
Eben, sagte Francesco. Frag dich mal, warum.
Darüber dächte ich nach, sagte ich. Oft, wenn ich von jenem Ort kam, der Beschädigung dokumentierte und Beschädigung verbreitete und vertiefte, fragte ich mich, ob diese Art Wissen zur Heilung von Wunden führte.
Ja doch, sagte ich, wir hatten gewußt, daß wir observiert wurden. Die Autos, die wochenlang vor der Tür standen. Der zerschlagene Spiegel im Bad. Die Fußspuren im Flur. Die deutlich geöffneten und wieder zugeklebten Postsachen. Die oft gestörten und ewig knackenden Telefone. Gewiß. Das war die normale Arbeit der zuständigen Organe.
Hatte sie euch nicht angst gemacht, wollte Francesco wissen. Doch. Die normale Angst vor einem Gegner, der über wirksamere Mittel verfügt als du. Und es war eine Wohltat, daß du ihn rückhaltlos »Gegner« nennen konntest: Klare Verhältnisse. Dazu habe ich einige Zeit gebraucht. – Kenn ich, sagte Francesco, kenn ich alles. Und die Kategorien, in die man euch eingegliedert hatte, hast du auch den Akten entnommen: »feindlich-negativ«: Na bitteschön, das hattest du dir denken können.
Sie gehören ja zu den PUTS und PIDS – Politische Untergrundtätigkeit, Politisch-ideologische Diversion –, sagte dir eure Bearbeiterin. Aber was war das schleichende Gift, das du aus diesen Akten einatmetest und das dich so lähmte? Damals konntest du es nicht benennen. Jetzt weiß ich: Es war die brutale Banalisierung eures Lebens auf diesen hunderten von Seiten. Die Gewöhnlichkeit, mit der diese Leute euerLeben ihrer Sichtweise anpaßten. Selbst wenn die Tatsachen gestimmt hätten, über die die Observanten berichteten und die die Führungsoffiziere von Zeit zu Zeit zusammenfaßten – was keineswegs immer der Fall war; sie mußten ja den Interessen und Erwartungen der Auftraggeber angepaßt werden –, selbst dann stimmte nach meinem Empfinden nichts. Wenn ich irgend etwas gelernt habe bei der Lektüre dieser Berichte, dann, was Sprache mit der Wirklichkeit anstellen kann. Es war die Sprache der Geheimdienste, der sich das wirkliche Leben entzog. Ein Insektensammler, der seine Objekte aufspießen will, muß sie vorher töten. Der Tunnelblick des Spitzels manipuliert sein Objekt unvermeidlicherweise, und mit seiner erbärmlichen Sprache besudelt er es. Ja, sagte ich zu Francesco, das war es, was ich damals empfand: Ich fühlte mich besudelt.
Wieder bot Francesco mir an, eine Pause zu machen, wir holten uns Tee, es wurde dunkel, wir traten an das große Fenster und sahen den letzten Lichtschein auf der See. Ob das jemand verstehen kann? fragte ich Francesco. Nicht die Masse des Materials, nicht die Menge der auf uns angesetzten Informellen Mitarbeiter, nicht einmal deren Entschlüsselung durch ihre Klarnamen – das alles ist es nicht gewesen, was die Depression in mir auslöste und mir das Gefühl gab, ich dürfe mich nicht tiefer in diese Akten einlassen, um nicht angesteckt zu werden von dem Ungeist, der ihnen entströmte. Nein, nicht angesteckt: Befallen. Ich dürfe nicht zulassen, daß die nachträglich über uns
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